In einem Labor werden Ideen entwickelt, Thesen aufgestellt und verworfen. Forscher:innen führen Experimente durch, die Probleme lösen, eine neue Gegenwart und Zukunft (mit)gestalten sollen, die hinterfragen, reflektieren und neu entwickeln. Dabei findet der Labor-Gedanke in den letzten Jahren nicht nur im herkömmlichen naturwissenschaftlichen Sinne Anwendung, sondern erfreut sich auch zunehmend im geisteswissenschaftlichen Bereich, in Design- oder Architekturkontexten sowie in interdisziplinären Forschungsansätzen Beliebtheit.
Die Pilotveranstaltung des Projektes am 15. Februar 2020 in den Münchner Kammerspielen fand aus heutiger Sicht (Stand Februar 2021) am Vorabend eines globalen Ereignisses statt, das dem Begriff der Krise des Kultursektors eine neue Dimension verliehen hat: Die COVID 19-Pandemie lähmt seit Monaten das gesellschaftliche Zusammenleben, Kultureinrichtungen bleiben geschlossen und damit sowohl für Kulturschaffende als auch Kulturkonsumierende unzugänglich.
So versammelt dieses Kapitel Beiträge von Akteur:innen der Stadtkultur, die die Dimensionen des Labor-Begriffs für ihr künstlerisches Schaffen oder Wirken im Kulturbereich vor und während der Pandemie hinterfragen und ausprobieren. Die Texte wurden in unterschiedlichen Stadien der Pandemie geschrieben und weiten den Blick auf den Labor-Begriff selbst oder greifen den Gedanken des Labor-Arbeitens auf. Dabei werden auch Gegensätze deutlich, wie etwa die unterschiedlichen Handlungsansätze von kommunaler und Privatwirtschaft bzw. Vereinsarbeit oder die Positionen von Fördernden, Kunstschaffenden und Publikum. Explizit oder implizit wird immer auch wieder die Frage laut, inwieweit sich Innovation und künstlerische Experimentierfreudigkeit mit dem Wunsch nach Institutionalisierung 1 und festen (finanziellen) Strukturen vereinbaren lassen.
Den Auftakt des Kapitels bildet Wie geht’s? – Ein Gespräch zwischen Martin Zierold und Birgit Schneider-Bönninger über Corona und die Transformation des Kulturbetriebs, eine Verschriftlichung der Podcast-Folge, die mit freundlicher Genehmigung der Gesprächspartner:innen hier veröffentlicht werden darf. Darin spricht Martin Zierold, Leiter des Instituts für Kultur- und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, mit Birgit Schneider-Bönninger nicht nur über ihr derzeitiges Wirken als Kulturdezernentin der Stadt Bonn, sondern auch über ihre vorherige Arbeit als Leiterin des Kulturamtes Stuttgart; in dieser Funktion hatte sie ein Zukunftslabor für die Stadt entworfen.
Spannende Denkverbindungen zu Schneider-Bönningers Aussagen ergeben sich durch den Text Langlebige Labore von Marc Gegenfurtner, dem gegenwärtigen Leiter des Stuttgarter Kulturamtes; er hinterfragt, wie beispielsweise durch Labor-Konzeptionen dauerhafte Veränderungen im Kultursektor und in der Stadtgesellschaft sowohl unterstützt als auch initiiert und verarbeitet werden können. Exemplarisch beleuchtet er Matthias Lilienthals Intendanz an den Münchner Kammerspielen und die Implikationen, die Lilienthals Wirken für den kulturpolitischen Diskurs bedeuteten.
Während Gegenfurtner an die Akteur:innen der Stadtkultur allgemein appelliert, Strukturen zu hinterfragen und neue Wege zu gehen, gewährt Katrin Schuster, Referentin der Direktorin der Münchner Stadtbibliothek in ihrem Beitrag Ein Ort, an dem Gesellschaft stattfindet: Die Bibliothek als soziale Infrastruktur für das 21. Jahrhundert Einblick in eine konkrete städtische Einrichtung, die diesen von Gegenfurtner skizzierten langen Weg bereits beschreitet: die Münchner Stadtbibliothek als Ort der Bürgerschaft, in der Gesellschaft im besten Sinne Platz findet und stattfindet. Ähnlich wie die öffentlichen Bibliotheken sich in den letzten Jahren von Orten des Bewahrens zu offenen Orten des Austauschs, der Begegnung und des Diskurses wandeln, gehen auch die Museen diesen Weg der Öffnung und erweiterten kulturellen Teilhabe. So erprobt etwa das Deutsche Museum mit seinem MediaLab aktuelle, digitale Möglichkeiten der Kultur- und Wissensvermittlung. Andrea Geipel und Johannes Sauter stellen dieses Projekt in ihrem Text Transparenz schaffen und Austausch fördern – ein MediaLab am Deutschen Museum vor.
Wie wichtig dabei finanzielle Sicherheit durch feste Förderstrukturen ist, zeigt der Kulturveranstalter Florian Schönhofer auf, indem er eben diese Sicherheit als Privileg etablierter Kulturinstitutionen kritisiert und ähnliche Strukturen für die Freie Kulturszene fordert.
Dass die existentielle Krise, in der sich die Kultur durch die COVID 19-Pandemie seit fast einem Jahr nun schon befindet, die Freie Szene, aber auch die privatwirtschaftlich agierenden Kulturveranstalter noch einmal härter trifft als die etablierten, öffentlich finanzierten Kulturinstitutionen, veranschaulicht auch der Beitrag The Last Dance – Ein Blick auf eine kulturpolitische Krise von Faris Delalic. Basierend auf einem Interview mit David Süß, dem Betreiber des Nachtclubs Harry Klein in München, lenkt Delalic den Blick auf einen in der öffentlichen Diskussion wenig wahrgenommen Bereich der Veranstaltungsbranche: die Nacht- und Clubkultur. Aus einer persönlichen Perspektive heraus schildert er das existentielle Dilemma einer Branche, die auf Gemeinschaftsgefühl, Tanzen und Feiern, auf direktem physischem Kontakt basiert – und die durch die Lockdown-Verordnungen größtenteils zum Erliegen gekommen ist. Aus dieser Notsituation hat sich, wie Delalic berichtet, Widerstand formiert: die mittlerweile bundesweite Aktion „Ohne uns ist’s still“ / „Kulturgesichter“ schafft eine breite Öffentlichkeit für die existentielle Notlage der Kulturschaffenden.
Wie wichtig funktionierende Netzwerke auch abseits der Krise sind, zeigen die beiden gemeinnützigen Vereine Kulturraum München e.V. und STADTKULTUR Netzwerk Bayerischer Städte e.V. Die Geschäftsführerinnen Sabine Ruchlinski und Christine Fuchs stellen in ihren Beiträgen die Arbeit der beiden Vereine vor. Während Kulturraum u.a. durch die Vermittlung gespendeter Eintrittskarten erfolgreich das kulturpolitische Credo „Kultur für Alle“ als gelebte Praxis in München umsetzt, initiiert und koordiniert das bayernweite Netzwerk STADTKULTUR die „Überregionale Zusammenarbeit von Kulturverwaltungen, Kultureinrichtungen, Politik und Akteur*innen Kultureller Bildung“.
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Institutionalisierung soll hier im Sinne von Douglass North verstanden werden; er definiert Institutionen als Rahmenbedingungen setzende Entitäten im Unterschied zu Organisationen, die innerhalb dieses Rahmens handeln können. Vgl. Douglass North. „Five Propositions about Institutional Change.“ In Explaining Social Institutions, hg. von Jack Knight und Itai Sened, 15-26, (Ann Arbor: University of Michigan Press, 1995), 15f. ↩︎