Münchner Urszene
Im Mai 1945, so will es die Legende, hält vor dem Haus von Hans Ludwig Held in Unterhaching ein Auto. Ein Herr steigt aus und richtet das Wort an Held, der gerade in seinem Garten werkelt, eine Schürze umgebunden, die Hände voller Erde: „Sind Sie der berühmte Mann?“ Helds Antwort: „Das werden’s gleich merken, wenn ich anders angezogen bin.“ Held wechselt die Kleidung und kehrt noch im selben Monat in das Amt des Stadtbibliotheksdirektors zurück, aus dem die Nationalsozialisten den ehemaligen USPD-Stadtrat im Oktober 1933 entlassen hatten.
Am 3. Januar 1921 hatte Hans Ludwig Held das eben erst geschaffene Amt des Stadtbibliothekars angetreten, um im Dienste der Volksbildung ein städtisches Büchereiwesen zu etablieren. Mit bemerkenswerter Entschlossenheit und Energie nahm sich „Haluhe“ der Aufgabe an: Binnen weniger Jahre eröffnete er zwölf Kinderlesestuben, vier Büchereien und zwei große Zeitungslesehallen – eine kulturpolitische Entscheidung, deren Dimension noch heute in Erstaunen zu versetzen vermag.
1928 überraschte der Stadtbibliotheksleiter nicht nur die Münchnerinnen und Münchner, sondern auch die bibliothekarische Fachwelt mit einem Coup namens „Wanderbücherei“. Ein moderner Straßenbahnwagen, ausgestattet mit einem aufs jeweilige Viertel zugeschnittenen Angebot, fuhr seither quer durch die Stadt, um auch die entfernteren Quartiere mit Lesestoff zu versorgen. „Das Buch muss zu den Leuten, nicht umgekehrt!“, lautete Helds schlichte Erklärung. Damit wäre nicht nur die Infrastruktur der Münchner Stadtbibliothek, sondern auch die politische Botschaft formuliert: Bibliotheken schaffen offene und diverse Zugänge zu Wissen, Unterhaltung und Information, um Bürgerinnen und Bürgern die Teilhabe an gesellschaftlicher Öffentlichkeit zu ermöglichen.
Wandelnde Zeiten
Und nun halte man sich – um die aktuellen Herausforderungen für Bibliotheken zu begreifen – nur einmal kurz vor Augen, wie sich diese Öffentlichkeit in den vergangenen 100 Jahren verändert hat. Menschliche Kommunikation ist längst nicht mehr auf physische Präsenz der Sprechenden angewiesen; auch die zugehörigen Medien wurden und werden nach und nach digitalisiert. Aus dem Forum wurde Facebook, aus dem Buch das eBook. Das ist per se nicht als Verlust zu begreifen, aber Folgen zeitigt es durchaus: Wir beginnen gerade erst zu verstehen – und die Corona-Pandemie hat das noch eindrücklicher bewiesen –, von welch zentraler Bedeutung die körperliche Anwesenheit für gesellschaftliche Teilhabe ist. Hate Speech, Fake News und Shitstorms sind zweifellos die prominentesten Formen digitaler Negativ-Kommunikation, und andersherum ging es Bibliotheken nie besser als in den vergangenen Jahren – während „die Mainstreammedien“ mit Hinweis auf „das Internet“ das Konzept Bibliothek in regelmäßigen Abständen für überholt erklärten. Kaum eine Institution musste in der Vergangenheit ein ähnlich groteskes Missverhältnis zwischen medialer Imagination und alltäglicher Realität erdulden wie die Bibliothek. Viel zu schnell hat sich die Institution vom geräuschempfindlichen Bücherlager zum multimedialen Gesellschaftslabor gewandelt, als dass der bildungsbürgerliche Diskurs dem noch hätte folgen können.
Tatsächlich sind Bibliotheken gefragter denn je: An jedem ihrer sechs Öffnungstage zählt die Münchner Stadtbibliothek über 20.000 Besuche – Kundenkontakte, um es in zeitgemäßem Deutsch zu sagen – in ihren Filialen, Tendenz steigend, genau wie in allen deutschen Stadtbibliotheken. Immer mehr Menschen wollen nicht nur leihen und zurückbringen, sondern in der Bibliothek sein, um dort zu lesen, zu lernen, zu schreiben, und das geschieht nicht selten gemeinsam mit anderen. Viele der Gäste sind Kinder, die mit einem Elternteil (üblicherweise der Mutter) oder der KiTa-Gruppe kommen, um an einer der zahlreichen Veranstaltung teilzunehmen oder ein Buch, ein Spiel, einen Film auszuleihen. Für Familien, gerade in Großstädten, ist die Bibliothek eine preiswerte Möglichkeit, den Wissenshunger des Nachwuchses zu stillen. Und sie ist ein sicherer und offener Ort: Bibliotheken bürgen dafür, dass sie ihre Inhalte nach bestem Wissen und Gewissen kuratieren und dass sie Zugänge öffnen, statt sie zu beschränken. Viele der Gäste sind Teenager – des Kapitalismus´ liebste Zielgruppe –, viele davon aus prekären Milieus, denen es zuhause am WLAN und/oder am eigenen Raum für Leben, Lieben und Bildung mangelt. Viele der Gäste sind Senior*innen, einige davon einsam bis vereinsamt und deshalb in ihrem Sozialverhalten etwas aus der Übung. Ein paar der Gäste sind Obdachlose, die hier wesentlich mehr finden als Wärme: Bibliotheken sind Institutionen ohne Eingangskontrolle, ohne Konsumzwang, ohne Überwachungskameras, in denen man nicht weiter auffällt, wenn man untätig herumsitzt. Und viele der Gäste sprechen mehr als eine Sprache – sie leihen Bücher in ihrer Herkunftssprache aus oder laden sich einen Deutschkurs herunter, sie begleiten ihre Kinder zur mehrsprachigen Vorlesestunde oder treffen sich mit einem Sprachpartner zum internationalen Dialog. Gemein ist den Besucherinnen und Besuchern von Bibliotheken nur eines: Im öffentlichen Diskurs haben sie nur eine sehr leise Stimme, wenn sie denn überhaupt eine haben.
All diese Menschen treffen in der Bibliothek auf Bibliothekar*innen, auf Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste, kurz FaMIs, sowie auf so genannte Technische Angestellte, die für das Ein- und Aussortieren der Medien in die Regale, fürs Anmelden und die Kasse verantwortlich sind. Auch auf der Seite der Mitarbeitenden herrscht mithin eine soziale und kulturelle Vielfalt, wie man sie wohl nur selten findet: Bibliothekar*innen haben ein Fachhochschulstudium absolviert, FaMI ist ein Ausbildungsberuf, die dritten sind ungelernt, wie es offiziell heißt, de facto aber oft Akademiker*innen mit Migrationshintergrund, deren Abschlüsse in Deutschland nicht anerkannt werden.
Wenn Kulturinstitutionen wie Theater oder Museen mehr oder weniger laut darüber nachdenken, wie die Diversifizierung von Kund- wie Belegschaft gelingen kann, huscht den Mitarbeitenden in öffentlichen Bibliotheken deshalb schon mal ein stolzes Lächeln über die Lippen. Denn sie haben sich bereits vor Jahren auf diesen Weg begeben – vielleicht nicht immer ganz freiwillig, doch stets im Bewusstsein, dass genau dieses Für-Alle-Da-Sein ihre Existenzberechtigung ausmacht.
Diversifizierung & Populismus
Die Digitalisierung und die Diversifizierung der Stadtgesellschaft haben markante und nachhaltige Folgen für öffentliche Bibliotheken. Bestände, Programme und Infrastrukturen stehen zur anhaltenden Diskussion: Brauchen wir mehr Datenbanken, Hörbücher oder Streaming-Angebote? Wie vielsprachig muss der Buchbestand sein, und bieten wir leichte oder einfache Sprache an oder beides? Wie mobil und flexibel muss ein zeitgemäßer Bestand sein? Sollten wir nicht alle unsere Veranstaltungen in Gebärden- oder andere Sprachen übersetzen? Haben wir die Themen der Stadt überhaupt alle im Blick? Wie bindet man die einzelnen Communities noch besser ein? Was muss unser offenes W-LAN leisten und wo endet dessen Offenheit? Brauchen wir mehr stille Arbeitsplätze oder mehr Raum für soziale Interaktion? Öffentliche Bibliotheken treffen mithin täglich Entscheidungen, die politischer sind, als es auf den ersten Blick scheinen mag.
Wahrgenommen wird diese Relevanz vor allem von jenen, die aktuell darum kämpfen, in der demokratischen Debatte erhört zu werden: von Rechtspopulisten einerseits und Minderheiten-Gemeinschaften andererseits. Beide Communities eint die Kritik an der Repräsentationspolitik öffentlicher Institutionen; regelmäßig wird die Ordnung der bibliothekarischen Dinge öffentlich hinterfragt – und tatsächlich gilt es ja zu begründen, wenn rechtspopulistische Bücher oder Zeitschriften nicht vorhanden sind, warum die Abteilung „Weltgeschichte“ eurozentristisch aufgebaut ist und warum „Homosexualität“ und „Pädophilie“ im Regal so scheinbar verwandt nebeneinanderstehen.
Und dann kam Corona
Der Aufenthalt in Bibliotheken kostet nichts, keiner kontrolliert die Zugänge, keine Überwachungskameras zeichnen auf, wer hier was tut und ob er oder sie überhaupt etwas tut. Niemand muss sich vor dem oder für das Betreten von öffentlichen Bibliotheken ausweisen, und Konsumzwang – betrifft das nun Bücher oder Kaffee – besteht hier ohnehin nicht. Ein zentraler Effekt der Pandemie gefährdet diese Offenheit oder stellt sie mindestens in Frage: Auch die Münchner Stadtbibliothek hat Ausleihen und Programme in den virtuellen Raum verlagert und damit notgedrungen diejenigen Menschen ausgeschlossen, die über keine ausreichenden Kenntnisse über digitale Tools verfügen oder denen die Zugänge schlicht verwehrt sind, weil es ihnen ganz profan an Geräten und/oder Netzverbindungen mangelt (und das sind mehr, als man vielleicht vermuten würde). Hinzu kommen die digital initiierten Einschnitte bei Persönlichkeits- und weiteren demokratischen Grundrechten, die dringender denn je öffentlich debattiert, reflektiert und kontrolliert werden müssen – von Social Media bis zur Corona-Tracing-App. Neue Zugänge verschließen manchmal also bisherige, und dem müssen Bibliotheken aktiv entgegenwirken, wenn sie ihrer Aufgabe auch weiterhin gerecht werden wollen.
Öffentliche Bibliotheken betreiben, wie es so schön heißt, gesellschaftliche Daseinsvorsorge, und auch dieses Dasein wurde von der Pandemie in Unordnung gebracht. Nicht nur, weil die Haushalte der Kommunen einen enormen Sparkurs werden fahren müssen, um sowohl Steuerverluste als auch die horrenden Kosten der Pandemie wenigstens teilweise auszugleichen. Sondern auch, weil die Stadtgesellschaft eine ganz andere ist als vor dem schon jetzt historischen März 2020.
Mehr Fragen als Antworten
Viele Menschen sind in Kurzarbeit oder bereits arbeitslos; Familien sind wegen der Ausgangsbeschränkungen und der geschlossenen Schulen, Kindergärten und Kitas an den Rand ihrer sozialen und intellektuellen Kräfte gelangt; Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene müssen einen radikalen Einbruch ihrer Bildungsmöglichkeiten und -chancen erdulden; ohnehin randständigen Communities droht der Verlust des Anschlusses an die Mehrheitsgesellschaft; viele Kultur-Akteur*innen stehen vor dem Nichts, viele Dienstleister*innen und Verwaltungskräfte vor dem Burnout – von weiteren psychischen Folgen der Pandemie wie Verschwörungsideologien, Psychosen, Angstzuständen, sozialer Verarmung und Einsamkeit ganz zu schweigen. Nüchtern gesprochen ergibt sich für Bibliotheken dadurch eine bunte Palette neuer Zielgruppen.
Aktuell gibt es mithin mehr Fragen als Antworten: Wie kann, muss und wird sich die Bibliothek verändern, um den Folgen der Pandemie die Stirn zu bieten? Was wird aus der Idee des gemeinschaftlichen Teilens, wenn menschliche Kontakte als gefährlich gelten? Wie bibliotheken wir unter Mundnasenschutz und mit der Pflicht, sich physisch zu distanzieren? Wie garantieren wir auch in pandemischen Zeiten Chancengleichheit und Diversität sowie Teilhabe und Partizipation aller an der Stadtgesellschaft? Welche Zahlen werden wir erheben müssen, um die Erfolge unseres Engagements zu messen? Wie müssen sich Programme und Bestände ändern, um dem allen gerecht zu werden?
Wir haben viel zu tun. To be continued.