Es freut mich sehr, die vorliegende Publikation zum Cultural Policy Lab ankündigen zu dürfen. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass einer der Herausgeber:innen, Christian Steinau, mit mir zusammen ein Masterseminar am Institut für Theaterwissenschaft veranstaltet hat, aus dem diese Veranstaltung hervorgegangen ist, sondern weil das Thema Cultural Policy mich auch als Wissenschaftler besonders beschäftigt. Mir war schon lange klar, dass das Forschungsfeld der Kulturpolitik in die theaterwissenschaftliche Forschung hineingehört, weil die Theaterinstitutionen, mit denen wir uns beschäftigen, sei es das Stadt- und Staatstheater oder die Freie Szene, maßgeblich von kulturpolitischen Rahmenbedingungen abhängig sind.
Mit wenigen Ausnahmen (wie zum Beispiel an der Universität Hildesheim) ist sie als eigenständiges Fach jedoch selten vertreten. Für die Politikwissenschaft war die Kulturpolitik zu randständig, für die Kunstwissenschaften nicht geisteswissenschaftlich genug. Betrachtet man die deutsche Kulturpolitik institutionell, so ist es evident, dass die Kulturpolitik heute ein wichtiger Akteur ist. Diese Evidenz ist aber neueren Datums. Die Politikwissenschaftlerin Annette Zimmer spricht vom „geringe[n] Stellenwert der Kulturpolitik als Thema und Untersuchungsgegenstand politikwissenschaftlicher Untersuchungen“.1 Das ist vielleicht nicht verwunderlich, bestand bis vor 20 Jahren die deutsche Kulturpolitik darin, zumindest was die Theater und Orchester betrifft, nicht sichtbar oder sogar nicht existent zu sein.
Man könnte diese Zurückhaltung auch als eine besondere Leistung oder eine Idiosynkrasie der deutschen Theater- und Orchesterlandschaft sehen: sie sei so verfestigt, die strukturelle, institutionelle Förderung scheint so stabil zu sein, dass die Kulturpolitik nur alle fünf Jahre bei der Berufung eines Intendanten bzw. Dirigenten (seltener einer Intendantin oder Dirigentin) in Erscheinung tritt und dann sich nicht mehr oder nur sehr diskret einbringt. Mit anderen Worten: die öffentlichen Theater und Orchester haben sich als weitgehend kulturpolitisch resistent erwiesen, inokuliert gegen politische Einmischung. Das hing sicherlich damit zusammen, dass Kulturpolitik hochgradig dezentralisiert und alle namhaften Kultureinrichtungen in kommunaler oder Landes-Hand sind. Bis vor wenigen Jahren hatte der Bund eigentlich nichts zu melden.
Es hat zweifelsohne kulturpolitische Großtaten auf Bundesebene gegeben: die Schaffung eines Staatsministers für Kultur und Medien in der ersten Schröder-Regierung, die Einberufung der Enquete-Kommission ‚Kultur in Deutschland‘, die Finanzierung durch den Bund des Instituts für Kulturpolitik und die Einrichtung der Bundeskulturstiftung in den Nuller Jahren verweisen auf eine Wiederkehr der Kulturpolitik. Auch die „Erfindung“ der Kulturwirtschaft nach 2000, wonach der Kultursektor ökonomisch knapp hinter der Automobil- und Chemieindustrie liegt, gehört im weitesten Sinne in den Bereich der Kulturpolitik.
Allerdings lässt sich kulturpolitisches Handeln nur unzureichend durch solche Top-Down-Entscheidungen beschreiben. Das macht es auch schwieriger zu erforschen. Es gibt sehr wohl Kulturpolitik in Deutschland, auch wenn sie sich anscheinend nur mit der Fortschreibung und Adjustierung des Status Quo begnügt. Allerdings gibt es kaum cultural policy im Sinne ausformulierter Handlungsempfehlungen und -verpflichtungen. Beim britischen Arts Council z.B. sind diese Dokumente euphemistisch unter der Rubrik ‚advice and guidance‘ verzeichnet. Allein zwischen 2000 und 2014 sind 285 solcher cultural policy documents produziert worden. Da diese Dokumente auch Förder-Richtlinien enthalten, an denen sich kulturelle Organisationen orientieren müssen, um Fördergelder zu bekommen, wirken sie verhaltensverändernd. Das wurde vor allem unter New Labour sehr deutlich.
Der hier verwendete Begriff – cultural policy – knüpft durchaus an den englischen Begriff an und bietet vielleicht eine vielversprechende Lösung des Problems der Gleichgültigkeit oder Nichtbeachtung. Cultural policy lässt sich nicht genau mit Kulturpolitik übersetzen. Der englische Begriff policy verweist viel stärker auf das Prozesshafte der politischen Entscheidungs- und Ausführungsmodalitäten. Man muss policy und erst recht cultural policy als Denkprozess betrachten, in dem über zukünftige politische Strategien nachgedacht wird. Ein Cultural Policy Lab, wie es im Februar 2020 am Vorabend der Corona-Epidemie in den Münchner Kammerspielen stattfand, sollte ausprobieren, wie man über eine künftige Kulturpolitik spielerisch und erprobend nachdenken könnte. Die Ergebnisse dieses „interdisziplinären Reflexionsformats“ können Sie in der vorliegenden Publikation nachlesen. Ich danke den Herausgeber:innen und auch den Geldgeber:innen, die diese Publikation großzügig unterstützt haben.
Prof. Dr. Christopher Balme
Direktor des Instituts für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München
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Zimmer, Annette: „Kultur als Politik“, https://www.krisengefuege.theaterwissenschaft.uni-muenchen.de/working-papers/wp-3_2019/workingpaper_32019.pdf [14.12.2020], S. 1. ↩︎