In einem vielfach rezipierten Zitat von Hannah Arendt (2003: 9) weist sie auf die permanenten Herausforderungen gesellschaftlichen Zusammenlebens hin: „Politik handelt von dem Zusammen- und Miteinander Sein der Verschiedenen.“ Im Hinblick auf gegenwärtige Diskurse und Herausforderungen von Kulturpolitik möchten wir im folgenden Beitrag ergründen, was Arendts gesellschaftstheoretische Positionen für eine demokratische(re) Kulturpolitik bedeuten könnten. Weiterhin möchten wir uns – entgegen einem im kulturpolitischen Mainstream verfestigten Fokus auf Konsens – mit der Bedeutung und dem gesellschaftsverändernden Potential von Konflikten in, durch und gegen Kulturpolitiken auseinandersetzen. Abschließend zeigen wir auf, wie wir in unserem Forschungsprojekt AGONART (01.12.2020 – 31.08.2022) den Versuch starten, anhand empirischer Feldarbeit eine agonistische Theorie von Kulturpolitik zu entwickeln.
Über Kulturpolitiken, so lässt sich mit Arendt sagen, werden Prozesse des Aushandelns von Verschiedenheit oder Differenz ermöglicht und gesteuert, vielleicht aber auch unterbunden und verunmöglicht. Um das vielschichtige „Zusammen- und Miteinander Sein der Verschiedenen“ näher zu beschreiben, schlagen wir vor, die miteinander verwobenen Konzepte von Konflikt und Kooperation eingehender zu betrachten. Insbesondere der Begriff der Kooperation, und auch Synonyme wie Kollaboration1, Zusammenarbeit oder Teamwork, sind in den letzten Jahren zu einem scheinbar omnipräsenten Ausdruck in kulturpolitischen Forderungs- und Förderkatalogen aufgestiegen. Kooperation wird auch in Kulturmanagement-Texten oder Kulturplanungsprozessen beständig als allumfänglicher Lösungsansatz für das Verhandeln verschiedener Interessen im kulturellen Feld genannt. Die Prominenz des Kooperationsbegriffs führt aber auch dazu, Konfliktpotentiale und ein grundsätzliches Verständnis von Differenz zu vernachlässigen. Anders gesagt, durch den starken Fokus aufs Kooperieren werden akute und latente Konflikte gegebenenfalls ausgeblendet.
Mit dieser kurzen Intervention möchten wir eine Blickverschiebung vornehmen, und den Begriff des Konflikts als zentralen Bestandteil für zukunftsorientierte und demokratische(re) kulturpolitische Theoriebildung beleuchten. Angelehnt an Arendts‘ Bewusstsein über Differenzen des „Zusammen- und Miteinander Seins“ erforschen wir, wie Konflikte zwischen kulturpolitischen Akteur*innen und Interessensgruppen theoretisiert werden können.
Begriffe begründen und entgründen
Unsere Überlegungen erfordern zunächst eine Reflexion der stark normativ geprägten Begriffe ‚Kooperation‘ und ‚Konflikt‘. Während Kooperation überwiegend positive Assoziationen hervorruft, und damit als erreichbare, erwünschte und dauerhaft zu erhaltende gesellschaftliche Ressource angenommen wird, wird Konflikt oft als Problem oder abzubauendes Hindernis betrachtet.
Problematisches binäres Verständnis von Kooperation und Konflikt
Konflikt wird als Problemverursacher* dargestellt, Kooperation hingegen als Lösungsbringerin aufgeladen. Dabei führt diese normative Verkürzung oder Verklärung von der Vielschichtigkeit sowohl von Konflikten als auch Kooperationen potentiell dazu, dass es keinen Raum gibt, Unstimmigkeiten anzusprechen. Die gebündelte Aufmerksamkeit, die künstlerischen, kulturmanageriellen und kulturvermittelnden Produktionsweisen, Arbeitsmodellen oder -praktiken, die auf Kooperation, Teilhabe und Zusammenarbeit ausgerichtet sind, zuteilwird, verschleiert so eventuell Konflikte. Der Hang, oder vielleicht sogar die Besessenheit von Kooperation mag mit einem notorischen Rechtfertigungsdruck im Feld der Kulturpolitik zu tun haben. Je höher die Erwartungen an Projekte, die kulturpolitische Förderung/Legitimation/Anerkennung erhalten möchten, desto höher mag auch die Schwelle sein, offen über Konflikte, Konkurrenzverhältnisse, unterschiedliche Interessen, verschiedene Interpretationsweisen, ungleiche Möglichkeits- und Machtkonstellationen zu sprechen. Diese Sackgasse, in die der Konsens- oder Kooperationsimperativ Kulturproduzent*innen dann potenziell manövriert, kann also hinderlich und vielleicht sogar gefährlich werden, wenn Kulturpolitik mittels gesellschaftspolitischer Interventionen und/oder künstlerischer Experimente demokratische(re) Auseinandersetzung fördern soll.
Implizite und explizite Kooperationserwartungen scheinen insbesondere in öffentlich geförderten Kooperationsprojekten stark ausgeprägt, in denen die ‚erfolgreiche‘ Zusammenarbeit an die Erreichung von qualitativen und quantitativen Förderzielen geknüpft ist. Dieser Effizienzdruck kann dazu führen, dass nach außen, etwa gegenüber staatlichen oder zivilgesellschaftlichen Fördergeber*innen, die Fassade funktionierender Kooperation um jeden Preis aufrechterhalten werden soll. Hinter den Kulissen hingegen mögen unbearbeitete Konflikte weiterschwelen. Wenn es sich um größere Projekte handelt, kommt es dann beispielsweise vor, dass jede Partner*innenorganisation des kollaborativen Kontextes das macht, was sie für ‚richtig‘ und erfolgsversprechend hält und sich – als Vermeidungsstrategie von Konflikten – die Berührungspunkte auf das Notwendigste, wie zum Beispiel administrative Aufgaben, beschränken. Die kulturellen Endprodukte „on stage“, „on display“, „on paper“ oder „on screen“ bilden die konfliktgeladenen Arbeitsbedingungen oder die anderen Auseinandersetzungen im künstlerischen Produktionsprozess kaum ab. Weiterhin kranken kooperative Projekte manchmal daran, dass es keine geordneten oder institutionalisierten Strukturen für das Besprechen von Konflikten gibt: ‚Nicht klarkommen’ wird als individuelles Problem oder als Schwäche Einzelner ausgelegt, anstatt auf die systemischen Schieflagen zurückzuführen. In Treffen zwischen verschiedenen Projekt- oder Kooperationspartner*innen wird über angeblich ‚Wichtigeres’ gesprochen als Unverständnis, ‚Befindlichkeiten’ oder Frustration (wohingegen diese anderen Themen vielleicht dringlicher, sicherlich aber nicht wichtiger sind – in der Priorisierung manifestieren sich Bewertungsprozesse und Machtverhältnisse). Über Konflikte wird hingegen entweder gar nicht, oder oft nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen oder gleich – strategisch platziert und weitere Konflikte befeuernd – in den Medien. Wird suggeriert, dass es in kooperativen Projekten keine Zeit, keine Formate und keine Werkzeuge zur Konfliktbesprechung gibt, verschärfen sich Konflikte nur. Aus der eigenen Praxis wüsste vermutlich jede*r Kulturarbeiter*in, -managerin und Künstlerin Geschichten von kleineren oder größeren Konflikten in Produktionen mit mehreren Beteiligten zu erzählen. Längerfristig und vielleicht auch eher unbewusst werden durch diese Ausweichtaktiken vielleicht auch zukünftige Zusammenarbeiten oder Formen des „Zusammen- und Miteinander Sein der Verschiedenen“ verunmöglicht. Diese praktischen Überlegungen und Begegnungen mit Konflikten, die trotz der oberflächlichen Anzeige des Labels ‚Kooperation‘ an den Tag kommen, zeigen die Grenzen der mehr oder weniger impliziten Annahmen über Kooperation auf.
Kurz gesagt: Kleinere oder größere, latente, öffentlichkeitswirksame, lösbare oder auch unlösbare Konflikte prägen kontinuierlich und unausweichlich – so unser agonistisches Verständnis – menschliches Zusammenleben. Jede Geschichte von Kooperation trägt abhängig von den Akteur*innen, die diese Geschichten erzählen, multiple Konfliktspuren in sich. Entscheidend, auch für eine zukunftsfähige und potenziell demokratische(re) Kulturpolitik ist somit der Umgang mit Konflikten. Wir fragen uns: Wer versteht was warum als Konflikt oder geglückte Kooperation? Wie können wir Erzählungen über kulturpolitische Zusammenarbeit jenseits von Kategorien wie Erfolg oder Scheitern, Konsens oder Konflikt verstehen? Hier setzt unser Verständnis von konfliktueller Kooperation an, um ein Umdenken von kulturpolitischen Prozessen zu initialisieren. Gleichzeitig soll dieser analytische Rahmen sowohl Anstoß für praktische als auch konzeptuelle Mobilisierungen im kulturpolitischen Feld geben, um sowohl Förderkriterien, -logiken, -modalitäten als auch diversitätsorientierte und partizipative Beteiligungsprozesse umzugestalten.
Konfliktuelle Kooperation – hin zu einer agonistischen Theorie der Kulturpolitik?
Hannah Arendt entwirft eine anspruchsvolle Demokratietheorie, in der Dialog und diskursive Auseinandersetzungen mit Formen von Verschiedenheit oder Differenz hervorgehoben werden. Differenzerfahrungen charakterisieren unsere Gegenwart. Unterschiede sind spürbar im Arbeits- und Privatleben, in der Art, wie wir uns durch Städte und Räume bewegen, wohin wir reisen, was wir essen, welche Sprachen wir sprechen, welche Formen von Kunst und Kultur wir genießen oder überhaupt als solche ansehen etc. Dementsprechend unterstreichen wir Differenz als notwendige Grundannahme auch für den kulturpolitischen Diskurs, um über eine zukunftsweisende und demokratische(re) Kulturpolitik nachzudenken. Mit dieser Blickverschiebung wollen wir den dominanten Bezugsrahmen der Kooperation nicht nur hinterfragen, sondern aus seinen Angeln heben. In den so neu entstehenden Räumen, sowohl physische als auch diskurs-symbolische Räume, könnte mehr Platz für Diskussionen über Konflikte geschaffen werden.
Sozialwissenschaftliche Forschung trägt der Komplexität von Konflikten zum Beispiel in Theorien von unabgeschlossenen Lern- und Entwicklungsprozessen Rechnung. Homi Bhaba beispielsweise entwirft das Konzept eines Third Space als Austragungsort kultureller Differenzen. Dabei ist dieser kein real existierender Raum (oder Ort, wie Michel de Certeau dies vielleicht nennen würde), sondern eröffnet sich überall dort, wo Menschen Differenzen auf Grund von Wissen oder Herkunft produzieren und verorten. „It is that Third Space”, schreibt Bhaba (1994: 37), “though unrepresentable in itself, which constitutes the discursive conditions of enunciation that ensure that the meaning and symbols of culture have no primordial unity or fixity; that even the same signs can be appropriated, translated, rehistoricized and read anew.” Wichtig an dieser Beobachtung ist die generelle Nichtdarstellbarkeit von dritten Räumen, die nichtsdestotrotz (oder gerade deshalb?) Möglichkeiten schafft, (kulturpolitische) Begegnungen radikal neu zu denken. Auch den Akteur*innen, die diese dritten Räume produzieren, wollen wir explizite analytische Aufmerksamkeit schenken.
Obgleich verschiedene Arten von Konflikten nicht leicht voneinander zu trennen sind, differenzieren wir tentativ zwischen zwei Arten von Konflikten (Hirschmann 1994):
Konflikten, die als Verteilungskonflikte gekennzeichnet sind und für die es vor dem Hintergrund knapper Ressourcen wie Zeit, Geld, Raum oder Personal (vorübergehend) eine Lösung geben kann (z.B. größere Fördervolumina, mehr Förderantragsrunden, Ausdifferenzierung von Förderinstrumenten, Experimente mit selbstorganisierter Fördervergabe, Öffnung von Jury-Verfahren, Entfristung prekärer Arbeitsverhältnisse oder Verlängerung von Förderzeiträumen, etc.).
Konflikten, die komplexere bzw. ‚fundamentalere‘ Ursprünge haben, die also eher normativer oder ideologischer Art sind (z.B. hierarchische oder patriarchale Führungsstrukturen, Wertevorstellungen, das Verständnis von Kunst als „Interpretation und ästhetische Wertschätzung“ (Zembylas, 2004: 157) sowie die „Infragestellung der rechtlichen Legitimität der Veröffentlichung eines Werks“ (ebd.), der ökonomische Druck, künstlerische Prozesse, Ergebnisse und ihre Rezeption zu quantifizieren, evaluieren etc.). Diese Konflikte lassen sich eben nicht so leicht durch Gespräch, Austausch oder die Aufforderung zur Kooperation auflösen und bleiben deswegen antagonistisch oder durch ‚Übersetzung‘ in vorläufige konfliktuelle Kooperationen eben agonistisch.
Weiterhin befindet sich das kulturpolitische Feld derzeit in einem politischen Spannungsfeld zwischen Instrumentalisierung von Kulturpolitik(en) in populistischen oder zunehmend illiberalen Gesellschaften in und über Europa hinaus, und dem weiterhin stark präsenten Mandat dialogorientierter, liberaler und demokratischer(er) Regierungen, Kunst und Kultur zur Stärkung von Vielfalt, Freiheit und Gleichheit öffentlich zu fördern.
Weiterhin befindet sich das kulturpolitische Feld derzeit in einem politischen Spannungsfeld zwischen Instrumentalisierung von Kulturpolitik(en) in populistischen oder zunehmend illiberalen Gesellschaften in und über Europa hinaus, und dem weiterhin stark präsenten Mandat dialogorientierter, liberaler und demokratischer(er) Regierungen, Kunst und Kultur zur Stärkung von Vielfalt, Freiheit und Gleichheit öffentlich zu fördern.
Die Einbindung von differenzorientierten Theorien in kulturpolitische Argumentations- und Handlungsmuster kann es uns ermöglichen, zu fragen, inwiefern technik- und toolgetriebene, vermeintlich rationale und effiziente Formen der Projektarbeit entpolitisierend wirken können (Hodgson & Fred, 2019). Weiterhin öffnet es Fragen nach den Ursprüngen von Konflikten, unabhängig davon, ob diese lösbar sind oder nicht. Ausgehend von Arendts Verständnis des „Zusammen- und Miteinander Sein der Verschiedenen“ oder Bhabas Theorie des „Third Space“ ergeben sich im besten Fall neue Fragen für kulturpolitische Akteur*innen aus der Praxis, Verwaltung und Forschung: Ermöglichen kulturpolitische Förderinstrumente Raum für das offene Verhandeln von Konflikten? Warum (nicht)? Werden kulturpolitische Förderinstrumente ihrem eigenen Anspruch, kritische oder gesellschaftlich wirksame Kulturproduktion zu unterstützen gerecht, indem sie selbst nach dem Kooperationsimperativ arbeiten? Wie orientiert sich Kulturpolitik innerhalb von Differenz bzw. dem Miteinander Sein der Verschiedenen, zum Beispiel im Hinblick auf soziale, sprachliche oder ethnische Herkunft, professionelle Ausbildung oder deren Fehlen, Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung, Hautfarbe? Während jene Diversitäts- oder Differenzkriterien an vielen Stellen städtischer, regionaler, nationalstaatlicher und auch europäischer sowie internationaler Ebene zunehmend verankert werden, lastet doch noch viel Verantwortung auf einzelnen Individuen; wir werden zu Unternehmer*innen fragmentierter Verantwortlichkeit und Handlungsmacht (Reckwitz, 2012). Entsprechend wird Misserfolg auch auf Einzelne (rück)übertragen und die Brüche und Übergänge, die einer projektgetriebenen Gesellschaft eigen sind, sollen individuell erduldet werden bzw. werden als persönliche Fehler individualisiert (Jensen et al., 2016: 18). Lohnt es sich denn wirklich nicht, in Konflikte zu investieren? Weil unsere (Arbeits-)Beziehungen zunehmend als temporär und vorübergehend erlebt werden? Oder müsste gerade wegen der permanenten Flüchtigkeit im Kulturfeld der Konfliktbewältigung ein größerer Platz in Kooperationsprojekten eingeräumt werden?
Die belgische politische Theoretikerin Chantal Mouffe spricht vom Agonismus als einer Beziehung zwischen freundlichen Feind*innen (friendly enemies) oder Gegner*innen (adversaries), die einen gemeinsamen symbolischen (und vielleicht auch physischen?) Raum der politischen Verhandlung teilen (Mouffe, 2000: 13). Ein wesentliches Ziel von Aushandlungsprozessen zwischen verschiedenen agonistischen Gegner*innen ist die Legitimierung des Prozesses, mit dem sich die Beteiligten in der einen oder anderen Weise identifizieren können. Im Sinne einer als legitim wahrgenommenen Gegner*innenschaft, die auf Wahrung von Differenzen zwischen ‚uns‘ und ‚euch‘ beruht, müssen die demokratischen Grundwerte von Freiheit und Gleichheit für alle bewahrt werden, um einen radikal ergebnisoffenen Austausch zu ermöglichen. Wichtig ist, dass sämtliche Grenzen zwischen ‚uns‘ und ‚euch‘ ohne die die Bildung von Identitäten nicht möglich sind, diese jedoch stets als durch Differenz konstruiert und jederzeit revidierbar gelten. Welche Grenzen gibt es für jeweils unterschiedlich betroffene Gruppen und Individuen in institutionellen Zusammenhängen bzw. kooperativen Projekten und welche Grenzen dürften und sollten vielleicht überschritten oder zumindest neu verhandelt werden? Wie (un)sichtbar sind Grenzen über das, was gesagt und getan werden darf? Wie können die paradoxen Potentiale von Konflikt und Kooperation praktisch erfahrbar werden, um Bewegung in Kulturpolitik zu bringen (Schad, 2019)? Inwiefern ermöglicht eine konfliktuelle Kooperation als kulturpolitisches Konzept eine demokratische(re) Entwicklung (Landau, 2019)? Wie können wir ein Denken von Kulturpolitik als Verteilungspolitik als primäre Konflikte von ‚Mehr‘ oder ‚Weniger‘ überwinden (Hirschmann, 1994: 302)? Wie könnte man Kulturpolitik als Nicht-/Mehr-als-Nullsummenspiel denken? Wie könnten bislang vielleicht unausgesprochene Konfliktthemen, die unsere (wessen eigentlich?) Identität und Werte berühren, diskutiert werden? Braucht es Moderation und wenn ja, welche?
Konflikte manifestieren sich sowohl mittelbar (z.B. durch Unwohlsein, Vermeidung, sensorischen oder psychischen Stress) als auch unmittelbar – sei es bei Kunst im öffentlichen Raum, sei es bei der Errichtung oder Erhaltung kultureller Infrastrukturen, sei es bei der Vergabe oder Verweigerung von Fördergeldern, sei es bei Personalentscheidungen. Eine Analyse von Konfliktformationen, -prozessen, -unterbrechungen, Brüchen, möglichen Neuaufbrüchen im Sinne einer agonistischen Theorie von Kulturpolitik kann neue Terrains für die aktive bzw. bewusste Erprobung von Konflikten beziehungsweise für ein Miteinander von Konflikt und Kooperation eröffnen.
Ausblick: Forschungsprojekt Agonistische Kulturpolitik (AGONART)
Hier setzt das Forschungsprojekt „Agonistische Kulturpolitik (AGONART) – Fallstudien zur konfliktiven Transformation von Kulturstandorten“ an, das ab 01. Dezember 2020 am Institut für Politische Theorie der Universität Wien durchgeführt wird (Projektkonzeption und –begleitung Friederike Landau und Oliver Marchart, Postdoc Anke Schad-Spindler, Prae-Doc Stefanie Fridrik). Das empirisch geleitete Projekt wagt den Versuch, dem Verhältnis von Konflikt und Kooperation in verschiedenen Anordnungen städtischer Kulturpolitiken ‚auf den Grund‘ zu gehen, ohne dabei anzunehmen, dass ein solcher essentieller Grund je erreichbar wäre. Die empirische Fallstudienarbeit in den drei ausgewählten österreichischen Städten Wien, Graz und Linz untersucht unter anderem deren lokalspezifische Kulturfördermittelvergabe und Kulturförderschwerpunkte, um jeweils ähnliche oder divergierende kulturpolitische Logiken, Prioritäten, Handlungsmaxime, Leitwerte und Zielsetzungen zu identifizieren.
Das Projekt AGONART stellt dabei die Notwendigkeit von Konflikten für eine lebendige demokratische politische Kultur in den Vordergrund. Dabei wird Konflikt nicht als etwas per se Destruktives erachtet, sondern – wie vom griechischen Begriff agon (regelgeleiteter Wettstreit) nahegelegt – als ein notwendiges Moment von Politik (Landau & Marchart, 2019). Im Hinblick auf den Kontext dieser Publikation sehen wir in der Initiative Cultural Policy Lab an der Ludwig-Maximilians-Universität München Möglichkeiten konfliktueller Kooperation, um neue kulturpolitische Zugänge, Methoden und Bedingungen auszuprobieren und zu erforschen – ganz im Sinne eines demokratischen „Experimentalismus“ nach John Dewey (2012). Entsprechend möchten wir fragen: Wie sehen Experimente mit Konflikten aus, wenn sie nicht als Problem, sondern als demokratischer Bestandteil von Kulturprojekten und auch Kulturförderung und -politik angesehen werden? Wie fühlen sich solche konfliktuellen Kooperationen an? Warum nicht verstärkt Konfliktprojekte statt Kooperationsprojekte fördern und wie verändern sich Vorstellungen von „guter“ oder „gelungener“ Kooperation, wenn wir mehr auf Konflikte achten? Aus den vielfältigsten Situationen, denen wir im empirischen Feld begegnen werden, möchten wir vorläufige Typologisierungen von Konfliktsituationen oder Antagonisierung erstellen. Beispielsweise skizzieren wir Pre-Antagonisierung als Phase der politischen Mobilisierung und Dissens vor der Entstehung kulturpolitischer Konflikte, sowie De-Antagonisierung als de-eskalierende Phase von Konflikten und Re-Antagonisierung als Momentaufnahme von wiedererstarkenden oder sich intensivierenden Konflikten. Obwohl die Kategorien dieser Heuristik nicht trennscharf betrachtet werden können, sollen sie dennoch richtungsgebende konzeptuelle Vektoren für ein erweitertes Verständnis von Konflikten im kulturpolitischen Feld anzeigen. Durch die empiriegeleitete Theorieentwicklung aus AGONART möchten wir Analyseraster entwerfen, die anzeigen können, woher welche Art von Konflikten stammt, wie diese sich narrativ und ressourcenbezogen entwickeln und zu welchen verschiedenen Ergebnissen der agonistischen Konfliktverhandlung die jeweiligen lokalpolitischen Akteur*innen kommen. Wir verstehen unseren Beitrag zur Erforschung kulturpolitischer Entscheidungs- und Förderprozesse somit als Aufforderung zur aktiven Auseinandersetzung mit multiplen Konflikten und wollen dem Imperativ der Kooperation ein wenig den Wind aus den Segeln nehmen. Kurzum, wir möchten mit Hilfe von agonistischem Denken ein momentum für Kulturpolitik schaffen.
Im Dickicht dieser ungeklärten Fragen bieten wir die Heuristik konfliktueller Kooperation als strukturierendes Element an, um uns durch die vielen und sich vervielfältigenden Krisen, in denen sich Kulturpolitik derzeit befindet, zu navigieren. Mit AGONART möchten wir agonistische Begegnungen ermöglichen, in denen Widersprüche und Konflikte bewusst als unausweichlicher Bestandteil demokratischer Auseinandersetzung wahrgenommen werden. Ein Weiterdenken und Weitermachen im Sinne eines agonistischen Zusammen- und Miteinander Seins der Verschiedenen ist explizit erwünscht.
Link zum Forschungsprojekt Agonistische Kulturpolitik (AGONART):
https://politikwissenschaft.univie.ac.at/forschung/forschungsprojekte/forschungsprojekt-agonart/
Literatur
Dewey, J. (2012). The Public and Its Problems: An Essay in Political Inquiry. Edited and with an introduction of Melvin L. Rogers. The Pennsylvania State University Press.
Hampel, A., & Schneider, W. (2015). Fair Cooperation: Partnerschaftliche Zusammenarbeit in der Auswärtigen Kulturpolitik. Springer VS.
Hirschmann, A. O. (1994). Wieviel Gemeinsinn braucht die liberale Gesellschaft? Leviathan, 22(2), 293–304.
Hodgson, D. E., & Fred, M. (Hrsg.). (2019). The projectification of the public sector. Routledge, Taylor & Francis Group.
Jensen, A., Thuesen, C., & Geraldi, J. (2016). The Projectification of Everything: Projects as a Human Condition. Project Management Journal, 47(3), 21–34.
Landau, F. (2018). Conflictual Collaboration. The Koalition der Freien Szene in its fifth year of existence. https://www.bbk-berlin.de/sites/default/files/2020-04/11PunkteBroschur03_18_KFS_web.pdf.
Landau, F. (2019). Agonistic articulations in the „Creative" City: On New Actors and Activism in Berlin’s Cultural Politics. Routledge.
Landau, F., & Marchart, O. (2019). Exposé Agonistische Kulturpolitik (AGONART) – Fallstudien zur konfliktiven Transformation von Kulturstandorten.
Schad, A. S. (2019). Cultural Governance in Österreich. Eine interpretative Policy-Analyse zu kulturpolitischen Entscheidungsprozessen in Linz und Graz. transcript.
Zembylas, T. (2004). Kulturbetriebslehre. Grundlagen einer Inter-Disziplin. VS Verlag für Sozialwissenschaften.
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Im englischsprachigen Kontext werden die Begriffe „cooperation“ und „collaboration“ synonym gebraucht. Für den deutschsprachigen Kontext weist Hampel (2015: 38) darauf hin, dass Kollaboration, wie im Duden angegeben, oft verstanden wird als „gegen die Interessen des eigenen Landes gerichtete Zusammenarbeit mit dem Kriegsgegner, mit der Besatzungsmacht“. Von Landaus (2018) englischem Begriff der ‚conflictual collaboration‘ ausgehend, sprechen wir hier im Folgenden und im Kontext von AGONART von „konfliktueller Kooperation“. ↩︎