Cultural Policy Lab

Das Cultural Policy Lab ist ein interdisziplinäres Reflexions-Format, das ausgehend von dem theaterwissenschaftlichen Master- Forschungsseminar „Institutionelle Ästhetik“ an der LMU München entwickelt wird. Das Cultural Policy Lab verfolgt das Ziel, innerhalb der traditionsreichen Universitätsstruktur einen dynamischen Think- and Do-Tank aufzubauen, in dem die physischen und ideellen Räume der Universität ausgehend von kulturpolitischen Fragen neu gedacht werden.

Wir leisten Pionierarbeit für den Forschungstransfer in den Kunst- und Geisteswissenschaften und gestalten neue Allianzen. In Kooperation mit Partnern aus Kulturverwaltung, Kulturpolitik, Kunst und Wissenschaft entwickeln wir nachhaltige Strategien für die Kultur- und Kreativwirtschaft.

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moc.balyciloplarutluc@ofni

Wir bedanken uns bei den Förderern, die die Entwicklung der ersten Schriftenreihe des Cultural Policy Labs möglich gemacht haben:

Projektleitung: Christian Steinau, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Ludwig-Maximilians-Universität München

Kontakt: Ludwig-Maximilians-Universität München, c/o Nachwuchsforschungsgruppe Kreativität und Genie, Edmund-Rumpler-Str. 13b, Raum 176, 80939 München, Germany (c.steinau(at)lmu.de)

Mitarbeit: Johanna Vocht und Christina Kockerd

Design: Studio Lob (www.lob.tf)

Code: Lukas Marstaller (www.bnag.cc)

Copyright: Cultural Policy Lab, 2021

Impressum & Disclaimer

Anschrift: Cultural Policy Lab, c/o Nachwuchsforschungsgruppe Kreativität und Genie, Ludwig-Maximilians-Universität München, Edmund-Rumpler-Str. 13b, Raum 176, 80939 München

E-Mail: info(at)culturalpolicylab.com

Verantwortlich für den Inhalt: Ludwig-Maximilians-Universität München, Christian Steinau, Projektleiter des Cultural Policy Lab

Das Cultural Policy Lab ist ein Forschungs- und Transferprojekt, das im Wintersemester 2019/20 aus dem theaterwissenschaftlichen Master Forschungsseminar Institutionelle Ästhetik an der LMU München entwickelt wird. Es ist keine Einrichtung der LMU München, sondern ein vom Wissenschaftlichen Mitarbeiter Christian Steinau geleitetet Forschungs- und Transferprojekt.

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Expanding Perspectives – Im Austausch mit Akteur:innen der Kulturpolitik Index

„Man muss auch in Communities gehen und die Arbeit leisten“

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Christina Kockerd: Lieber Waseem, du wurdest uns von Claudia Stamm im Gespräch über Politiker*innen der mut-Partei empfohlen. Kannst du mir etwas über dein politisches Engagement erzählen und welche Rolle Kulturpolitik darin spielt?

Achim „Waseem“ Seger: Ende 2019 habe ich mich bei Die Urbane. Eine HipHop Partei 1 eingebracht. Der erste Gedanke, in München zur Stadtratswahl anzutreten, kam dieses Jahr im Frühjahr. Ich habe u.a. von Claudia Stamm mitbekommen, dass die mut-Partei 2 auch antreten will. Sie waren sehr nah an dem, was ich mit Die Urbane. vertreten möchte. Deswegen haben wir eine gemeinsame Kampagne gestartet. Es gab noch keine Liste für Die Urbane., daher habe ich mich auf der mut-Liste aufstellen lassen, um zu zeigen, dass eine größere Front die gleichen Themen hochhält. Fast wäre ich OB-Kandidat der mut-Partei geworden. Am Ende wurde ich es nicht, was auch in Ordnung war, denn es wäre gar nicht so repräsentativ gewesen. Da wäre ich eher ein Token gewesen – so nennt man es, wenn eine Person an eine bestimmte Stelle gewählt wird, aber in den Strukturen diese Gruppierungen noch nicht gleichberechtigt auftauchen. Ich fand, es wäre ein schönes Zeichen gewesen, als OB-Kandidat anzutreten, und sicherlich eine schöne Kampagne, aber es wäre nicht wirklich repräsentativ für die mut-Liste gewesen. Wenn ich das mal so nennen darf, dann war die mut-Liste doch noch ein weißer Raum und Die Urbane. ist von BPoC-Personen, also von Schwarzen und PoC-Personen, geprägt. Das ist schon noch ein kleiner Unterschied. Von daher war das in Ordnung. Leider hatten wir keinen Platz am Ende, aber für mich persönlich war die Kampagne gut: ich habe ca. 10.000 Stimmen bekommen, was für mich ein sehr gutes Ergebnis war, um mich ein erstes Mal auf die politische Landkarte zu setzen. Und auch, um bei verschiedenen Veranstaltungen, Diskussionen – wie bei eurem Lab – Perspektiven zu vertreten, die sonst nicht so gehört werden. Das hat mit dieser Kampagne gut funktioniert.

Kockerd: Und welche Rolle, würdest du sagen, spielt Kulturpolitik in deiner Arbeit?

Waseem: Ich bin noch nicht lange als Politiker dabei und kein richtiger Profi, ich mache das ehrenamtlich. D.h. ich würde Kulturpolitik als Kunst- und Kulturschaffender interpretieren. Ich bin kein Politiker, der Vorgaben machen möchte, sondern ich bin Kulturschaffender, Künstler, Veranstalter, DJ, Poetry-Slammer, Rapper – alles Mögliche. Damit komme ich eher aus der anderen Richtung und würde die Kulturpolitik gerne aus der Szene heraus verändern, mitgestalten und ein Sprachrohr für die Kunst- und Kulturszene sein.

Kockerd: In dieser Doppelrolle als Politiker und Sprachrohr der Szene haben wir uns sehr gefreut, dass du beim Cultural Policy Lab dabei warst. Inklusion und Diversität haben im Lab eine wichtige Rolle für uns gespielt. Sie sind nicht nur in der Kulturpolitik, sondern auch im akademischen Diskurs aktuell wichtige Themen. Aber bei der Durchführung der Veranstaltung – wir hatten auch hinterher drüber gesprochen – ist uns aufgefallen, dass es schwierig ist, nicht nur über Diversität zu sprechen, sondern sie auch wirklich umzusetzen. Wie war denn dein Eindruck von der Veranstaltung in dieser Hinsicht?

Waseem: Ich habe das an dem Abend ja auch schon gesagt: Ich finde, wir waren immer noch unter uns. Ich schließe mich mit ein, obwohl ich mich selbst als Schwarz bezeichne und vielleicht auch der einzige Muslim auf dem Podium war – ich war da vielleicht eine der diverseren Personen. Aber ich schließe mich trotzdem mit ein, denn ich sehe mich auch als akademisch, ich habe studiert, ich bin in der Politikstruktur und bin doch irgendwo in verschiedenen Formen repräsentiert. Aber ich fand, dass bei der Veranstaltung nicht das Gesellschaftsbild abgedeckt war, das man bei einer politischen Austausch-Town Hall-Diskussion sehen möchte. Da müssten mehr Schwarze Personen oder PoC vorkommen und das Intersektionale: vielleicht eine Schwarze Frau mit Kopftuch oder eine lesbische Schwarze Frau. Wir hatten jemanden im Rollstuhl und jemanden aus der LGBTQ-Community – sie waren zwar da, aber es waren immer noch einzelne Personen und nicht alle Perspektiven waren vertreten. Da könnte man sicherlich noch mehr machen und ich würde mir das schon bei der Konzeption wünschen. Das darf man auch nicht vergessen. Wenn ein Raum z.B. von weißen akademischen Personen gestaltet wird und die Einladungen von ihnen ausgesucht werden, dann ist es immer noch ein weiß gestalteter Raum. D.h. man könnte eigentlich schon bei der Konzeption andere Gruppierungen, Personen, Perspektiven mitdenken.

Kockerd: Wie beurteilst du denn das Verhältnis von Diversität und Kulturpolitik aktuell?

Waseem: Ich glaube, ich bin nicht der ‚Über-Experte.‘ Generell bekommt man mit, dass die Subkulturen, Schwarze oder z.B. HipHop-Kulturen und Jugendkulturen nicht nur unterrepräsentiert, sondern auch unterfinanziert sind. Wenn man an Kulturgelder denkt, verbindet man damit eher den Gasteig oder Museen, die man als klassische intellektuelle Angebote sehen könnte. Dass die Subkulturen gestärkt werden müssen, ist das Erste. Die Frage war aber Diversität und Kultur, richtig?

Kockerd: Ja, genau.

Waseem: Ich würde sagen, da ist es relativ ähnlich. Ich bin ja auch Kunst- und Kulturveranstalter und spreche jetzt aus dieser Perspektive, nicht aus der Politiker-Perspektive. Da merke ich, dass es z.B. auf Poetry Slams immer die Ausnahme ist, wenn eine nicht-weiße Person auf die Bühne geht. Generell sind Veranstaltungen im Kunst- und Kulturbereich immer noch stark weiß geprägt, was ja zu einem gewissen Teil auch in Ordnung ist, denn wir sind eine weiße Mehrheitsgesellschaft. Aber es ist schwierig für Personen, die andere Herangehensweisen oder Konzepte haben, da einen Platz oder Gehör zu finden. Ein Beispiel wäre, dass Geflüchtete mal irgendwo eine Party organisieren können und nicht nur eingeladen werden – sie einzuladen wäre das Erste. Ich mache beides: Geflüchtete auf Bühnen einladen und ihnen eine Plattform geben und sie zum Veranstalter machen, sodass sie einen Abend gestalten dürfen. Ein nächster Schritt wäre, dass sie selbst ein Café oder einen Club betreiben oder besitzen dürfen oder dafür Fördergelder bekommen. Bei diesen ganzen Strukturen bräuchte es meiner Meinung nach eine Stelle oder einen Beauftragten, um überhaupt das Bewusstsein in der Politik dafür zu schaffen, dass man solche Menschen mehr fördert, direkt auf sie zugeht und sie an die Hand nimmt. Dann würde die Kulturlandschaft dadurch geprägt, dass man diese Menschen empowert und ihnen ermöglicht, ein gleichberechtigter Teil zu sein und nicht nur – wenn überhaupt – Gast.

Kockerd: Du hast gerade Institutionen wie den Gasteig erwähnt, und auch die Kammerspiele, wo unsere Veranstaltung stattgefunden hat, könnte man als die großen klassischen Kulturinstitutionen bezeichnen, die von der Stadt subventioniert oder getragen werden. Wie könnte es denn deiner Wahrnehmung nach gelingen, diese Kulturinstitutionen für neue Zielgruppen zu öffnen, die gerade noch unterrepräsentiert sind?

Waseem: Es gibt zwei Richtungen, zwei Wege: Der eine ist von oben, also Top Down, und der andere ist Bottom Up. Ich würde sagen, Top Down war mit Matthias Lilienthal, als er die Kammerspiele geleitet hat. Er hatte da gute Ansätze. Es gab z.B. den Open Border Congress, und das Welcome Café. Bei ein paar Angeboten und Programmen ist mir aufgefallen, dass das Thema dort ankommt und dass zumindest auch Perspektiven eingeladen wurden. Top Down bedeutet also, wenn die Leitung entscheidet oder das Programm durch entsprechende Gelder vorausgesetzt wird. Aber das ist nur von oben herab und man muss auch von unten anfangen. Man muss wirklich auch in Communities gehen und die Arbeit leisten, um Menschen dafür zu begeistern und überhaupt erstmal selbst neue Perspektiven zu entdecken. Dann kann man langfristig neue Zielgruppen erkennen, erschließen, einladen und inkludieren. Das passiert nicht von heute auf morgen. Für mich ist das eine zweiseitige, gesamtgesellschaftliche Debatte. Inklusion – Integration sagt man ja nicht mehr – ist eine zweiseitige Geschichte und so ist es bei Diversität auch. Man muss selbst bereit sein und das analysieren – das macht ihr gerade und das finde ich super. Dann muss man selbst auf die Communities zugehen und bei denen muss diese Reflektion auch passieren, damit sie sagen können: wir können uns vielleicht doch mal vorstellen, als Frau mit Kopftuch Theaterstücke zu spielen. Oder vielleicht mal ein afrodiasporisches Theaterstück aufzuführen. D.h. es kann erst dann konkret angedacht und umgesetzt werden, wenn von beiden Seiten überhaupt Bewusstsein dafür da ist.

Kockerd: In der Wissenschaft und im Kulturmanagement gibt es diesbezüglich im Moment v.a. Debatten über Audience Development und über die Frage, wie man Nicht-Besucher erforschen kann. D.h. es wird untersucht, wie neue Zielgruppen angesprochen werden können, aber auch, warum denn Personen, die man gerne ansprechen würde, z.B. nicht ins Theater gehen. Welche Erfahrungen hast du mit deinen HipHop- und Poetry Slam-Workshops gemacht und wie würdest du deine Zielgruppe beschreiben?

Waseem: Das sind zwei Punkte. Ich fange mal bei meinen Workshops und bei meiner Zielgruppe an. Und dann könnte man vielleicht darauf eingehen, wie man eigentlich die Nicht-Besucher definiert. Meine Teilnehmer sind gemischt. Ich mache die Workshops an verschiedenen Institutionen, an Schulen, oder auch in Einrichtungen und Unterkünften. D.h. meine Zielgruppe ist erstmal generell junges Publikum und an HipHop und Poetry Slam Interessierte. Das können manchmal auch die Lehrkräfte sein oder irgendwelche Institutionen, die das Thema interessiert und die das gerne Kindern und Jugendlichen mitgeben möchten. Oder sie suchen das vielleicht gar nicht selbst aus. Aber ich würde sagen, die speziellen Gruppen sind geflüchtete Menschen oder viele mit Migrationshintergrund, die z.B. gerade erst Deutsch lernen und dann den ersten deutschen Text schreiben. Da ist meine Intention, Menschen, die neu hier sind, eine Bühne zu geben, sie zu empowern und ihnen dabei zu helfen, ihre Perspektive auszudrücken, künstlerisch aufzuwerten und zu präsentieren, also auf die Bühne zu gehen. D.h. ich begleite Jugendliche teilweise vom ersten Strich auf dem Blatt – manche lernen sogar schreiben oder andere haben noch nie etwas von HipHop gehört – bis manchmal Jahre später, bis sie auf einer Bühne stehen und professionelle Auftritte machen. Das ist meine Kernkompetenz, das machen nicht so viele. Ansonsten gehe ich auch an Schulen und spreche über die Jugendkultur HipHop und verbinde das mit Antirassismus-Workshops. Das fließt oft zusammen. War das ungefähr getroffen auf die Frage?

Kockerd: Ja. Wie sind denn deine Erfahrungen mit der Zielgruppe und der Konzeption der Workshops? Wie würdest du die Resonanz beschreiben?

Waseem: Wächst. In den Strukturen, also bei den Entscheidungsträgern, kommt es immer mehr an, dass das ein Tool ist, mit dem man Jugendliche leicht abholt, sie inkludiert und auch gleich aktivieren kann. Die machen sehr schnell und gerne mit, weil es etwas Cooles ist, das sie selbst feiern. Natürlich lernt man auch immer selbst was von den Schüler*innen, die lernen etwas über sich und am Ende steht da Selbstanerkennung, Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein, Gruppendynamik – also ganz vieles. Gleichzeitig ist es ein Gegengewicht zu dem leider vorherrschenden Mainstream-Rap. Deutschrap ist mitunter sehr sexistisch, materialistisch und homophob. Dazu ein gesundes Gegengewicht zu schaffen, ist mir wichtig. D.h. man geht in die Schulen und in die Gruppen und spricht über HipHop und Rap. Die meisten meinen dann erstmal, dass Rap etwas Aggressives oder Negatives ist, bei dem es um Drogen, Frauen und Gewalt geht. Aber wenn man darüber spricht, was eigentlich die Themen der Jugendlichen sind, sie fragt, über was sie denn gerne sprechen würden, und anstatt Gewalt Peace, Love, Unity vorschlägt, dann kann man nicht nur die Wahrnehmung von HipHop beeinflussen, sondern auch die Selbstwahrnehmung dieser Jugendkultur. Das finde ich auch ganz wichtig.

Kockerd: D.h. die Jugendlichen sind allgemein ein wichtiger Startpunkt in der Kulturpolitik, höre ich das richtig heraus?

Waseem: Natürlich, das ist die nächste Generation. Wenn die nicht eine gesunde, eigene Zukunftsvision entwickeln, die Inklusion, Gleichberechtigung und Respekt aufbaut, dann werden wir in den nächsten Jahren eher Leute haben, die ‚Money Money, Glitzer Glitzer‘ cool finden anstatt ins Theater zu gehen.

Kockerd: Wie beurteilst du denn aus deiner Erfahrung heraus die Kulturpolitik in München und welche Herausforderungen siehst du?

Waseem: Jetzt gerade sieht man, dass Formate wie ‚Kunst im Quadrat‘ oder ein paar Open-Air-Veranstaltungen auf der Olympiabühne, kulturpolitisch funktionieren. Aber man merkt auch, wie bröckelig das alles ist, wenn mal ein paar Clubs wegfallen. Dann wissen die Jugendlichen schon wieder nicht, wo sie hingehen sollen, und können eigentlich nur draußen irgendwo rumhängen. Das Kulturprogramm für die Jugend ist noch ausbaufähig. Das ist stark auf Alkohol und Party ausgelegt und wenig auf Empowerndes, Inkludierendes, wo sie aktiv mitmachen können. Als Herausforderung sehe ich, auch da die Intersektionalität mitzudenken. Ich glaube, eine Herausforderung für die Kultur ist, dass man oft Leute vergisst. Ich denke z.B. an Rollstuhlfahrer*innen. Dass man Zugänge für Menschen schafft, die sonst nicht mitgedacht werden, ist die größte Herausforderung. In welches Theaterstück oder in welchen Club gehen oder kommen z.B. Menschen mit körperlicher Behinderung oder eine Frau mit Kopftuch oder jüdisch gläubige Menschen? Was spricht sie an, was spricht sie nicht an, gibt es genug für sie? Gibt es überhaupt ein Angebot, was von ihnen irgendwie mitgestaltet wird, wo sie mitreden können, wo sie sagen können: hey, ein großer Teil der Jugendlichen interessiert sich dafür, können wir das nicht mal umsetzen? Ich kann mir vorstellen, dass die Kommunikationswege hier einfach noch nicht da sind. Hier wären so etwas wie ein Kulturbeirat oder Abgeordnete bzw. Menschen, Personenbeauftragte gut, die wirklich in die Communities gehen und das nicht von oben herab vermitteln. Sondern strukturell so aufgebaut, dass die Communities selbst sich einbringen können. Das fände ich super. Ich weiß nicht genau, wie die Situation diesbezüglich im Moment ist, aber so fände ich es gut.

Kockerd: Du bist in der Black Lives Matter-Bewegung aktiv, die im Sommer 2020 auch in München demonstriert hat.3 Welche Verbindung siehst du zwischen Black Lives Matter und der Kulturpolitik im weitesten Sinne?

Waseem: Black Lives Matter ist eigentlich eine generelle Ansage, dass Schwarze Personen – jetzt mal auf Deutschland übertragen – hier unterrepräsentiert sind. Wir haben auch andere Probleme wie Polizeigewalt und Unterrepräsentation in allen Gremien, aber das passt hier nicht direkt. Bei der Kulturpolitik ruft Black Lives Matter dazu auf, dass mehr Schwarze Menschen in Positionen kommen, in denen sie entscheiden. Ich glaube, dadurch ändert sich dann auch ganz viel anderes. Wir können noch nicht vorhersehen, was dann alles gefordert wird oder sich ändern würde. Aber es würde auf jeden Fall die Perspektive der Gesellschaft auf manch‘ andere Themen lenken, die es davor wahrscheinlich nicht gab. Da würde dann sowas wie Polizeigewalt, Racial Profiling vielleicht auch thematisiert werden, aber auch, dass es eine einladende Position von Schwarzen Personen oder PoC geben kann. Da gehört nordafrikanisch und arabisch auch mit dazu. Es geht darum, dass die Menschen, die sonst Diskriminierung erfahren und froh sind, wenn sie irgendwo als Gast überhaupt mitgedacht werden, in eine Macher-Position und z.B. in Kulturzentren kommen, Gelder bekommen, Möglichkeiten bekommen, um mal Gastgeber*in zu sein. Sie sollen sagen können: das hier ist unsere Agenda, das hier ist unser wichtigstes Thema oder unsere Kunstform, unser Kulturverständnis. Das würde ich von der Black Lives Matter-Szene auf die Kunst-Kulturszene übertragen.

Kockerd: Im Cultural Policy Lab versuchen wir, genau diese Entwicklung zu untersuchen oder auch zu hinterfragen bzw. eine systematische Analyse dafür zu finden. Welche gesellschaftlichen und kulturellen Phänomene sollten deiner Meinung nach noch eingehender untersucht werden und wie könnte so ein interdisziplinäres Forschungslabor, wie wir es versucht haben, aus deiner Sicht organisiert sein?

Waseem: Das ist eine gute Frage. Du hast gerade interdisziplinär gesagt. Das erste Wort, das mir dazu einfällt, ist Intersektionalität. Ich glaube, das wird noch nicht ganz mitgedacht. Z.B. sind Frauen oft unterrepräsentiert und unterbezahlt, Frauen mit dunkler Hautfarbe sind nochmal schlechter auf dem Arbeitsmarkt gestellt und Frauen mit dunkler Hautfarbe und Kopftuch sind die letzten, die den Job bekommen. In der Kunst- und Kulturszene ist das wahrscheinlich insofern ähnlich, als dass diese Personen und Perspektiven am wenigstens vertreten sind. Ich glaube, das ist ein Kernthema, das sich durch alle Fragestellungen zieht. Wie lautete die Frage nochmal weiter?

Kockerd: Die Frage war, welche Phänomene deiner Meinung nach eingehender untersucht werden sollten und wie ein entsprechendes interdisziplinäres Forschungslabor aussehen könnte. Wir möchten versuchen, nicht nur z.B. aus theaterwissenschaftlicher Sicht zu analysieren, sondern vielmehr verschiedene Disziplinen, also theaterwissenschaftliche, literaturwissenschaftliche, kulturwissenschaftliche usw. Perspektiven zusammenzubringen und darüber nachzudenken, wie sie produktiv zusammenarbeiten können.

Waseem: Okay. Intersektionalität könnte man untersuchen, das habe ich schon gesagt. Jetzt ist noch die Frage, wie. Ich finde da ein Schlagwort ganz wichtig, nämlich Dekolonalisierung bzw. Entkolonisation. Konkret würde das für mich bedeuten, dass man sich rassistischer Strukturen, die in den Bereichen existieren, bewusst wird und schaut, woher sie kommen und warum sie so weiß dominiert sind. Da kommt man z.B. auf Rassenlehren und den Zweiten Weltkrieg, von dem es immer noch krasse Überbleibsel gibt. Man muss richtig analysieren, warum wir gerade nicht so divers sind, wie wir es sein wollen. Und dann müsste man das ganz strikt angehen und entkolonialisieren und patriarchale Strukturen bzw. alle Machtstrukturen hinterfragen, die Menschen daran hindern, Teil zu sein. Ich glaube, das ist keine einfache Aufgabe. Wenn man sich dessen bewusst ist und sich interdisziplinär aufstellt, ist das schon mal cool. Aber wenn die einzelnen Disziplinen immer noch neokoloniale Strukturen und Denkmuster repräsentieren, dann bringt das vielleicht nicht so viel. Dann kriegt man vielleicht verschiedene Bereiche, aber in den Bereichen die gleiche alte Zielgruppe. Ich glaube, das ist der Hinweis, an neokoloniale Strukturen zu denken und diese abzubauen.

Kockerd: Lieber Waseem, vielen Dank für das Gespräch und den Austausch!

Das Gespräch wurde am 08.09.2020 geführt.

Nachtrag im Januar 2021

Kockerd: Lieber Waseem, seit unserem Gespräch im September 2020 hat sich die Lage von Kulturschaffenden und Künstler*innen durch den bundesweiten Lockdown seit November 2020 nochmal einschneidend verändert. Wie nimmst du die aktuelle Situation und die Rolle der Kulturpolitik darin wahr und was wünschst du dir für die Zukunft?

Waseem: Corona hat die Welt weiterhin fest im Griff. Insbesondere die Kunst- und Kulturszene leidet, ähnlich wie die Gastronomie, massiv unter den Maßnahmen und den finanziellen Ausfällen. Wir, die Menschen aus der Musik-, Theater- und damit der Kulturbranche brauchen dringend einen Plan der Regierung, um sicherzustellen, dass diese Branchen überleben. Es ist bezeichnend, dass wir nicht als ‚systemrelevant‘ gelten. Ich denke, wir müssen dringend Strukturen und Verbände aufbauen, um unserer Stimme Gehör zu verschaffen. Dass die Kunst- und Kulturbranche in Deutschland keine Lobby hat, sagt viel über die aktuelle Kulturpolitik aus. In diesem Bereich gibt es ganz offensichtlich noch akuten Handlungsbedarf. Und weil wir ja auch viel über Repräsentation und Intersektionalität gesprochen hatten, würde ich es mal etwas provokant ausdrücken: Ich fühle mich derzeit auch als Kunst- und Kulturschaffender diskriminiert und nicht repräsentiert. Aber vielleicht ist das auch genau die Chance. Wir können nämlich aus dieser unangenehmen Situation Empathie und Solidarität mit anderen marginalisierten Gruppen entwickeln.


  1. Editorische Notiz: Die Urbane. Eine HipHop Partei wurde im Februar 2017 in Berlin gegründet. Sie setzt sich u.a. zum Ziel, die in der HipHop-Kultur manifestierten Schlüsselelemente Repräsentanz, Identifikation, Teilhabe, individuelle Selbstentfaltung, kreativer Wettstreit und machtkritische Perspektive auf die Politik zu übertragen. Vgl. https://www.die-urbane.de/programm/praeambel.html. ↩︎

  2. Editorische Notiz: Die Partei mut wurde im Juni 2017 in München gegründet und wirkt bisher v.a. in Bayern. Als Werte und Ziele formulieren sie die Punkte soziale Gerechtigkeit, gesellschaftliche Vielfalt, ökologische Transformation und Asyl/Migration – Frieden. Vgl. https://www.mut-bayern.de/mutigepartei/werte-und-ziele/. „mut“ steht für mitbestimmen, umsteuern, teilen, vgl. https://www.mut-bayern.de/mutigepartei/das-programm-zu-mut/. ↩︎

  3. Editorische Notiz: U.a. am 06.Juni 2020 und am 11.Juli 2020 rief die Bewegung BlackLivesMatter Munich zu Demonstrationen auf dem Münchner Königsplatz auf, an der zahlreiche Menschen teilnahmen. Vgl. https://twitter.com/BLMmuc. ↩︎

Achim „Waseem“ Seger und Christina Kockerd

Newsfeed

Das Cultural Policy Lab geht im Januar 2021 online. Auf unserer Website informieren wir über unsere Aktivitäten und unseren wissenschaftlichen Beitrag zur Bewältigung der Auswirkungen der Covid-19 Pandemie auf die Kultur- und Kreativwirtschaft. Stay tuned!