Die erste Schriftenreihe des Cultural Policy Labs ist in gewisser Weise als Work in Progress entstanden. Zu Beginn hatten wir den Plan, den Weg vom Forschungsseminar Institutionelle Ästhetik bis zur Veranstaltung in den Münchner Kammerspielen im Februar 2020 zu dokumentieren. Doch nur einen Monat nach dieser Veranstaltung hatten sich alle Diskurse auf einen Schlag geändert. Wo wir eben noch über die Bedeutung der Stadtbibliothek als Dritte Orte jenseits von Zuhause und Arbeit gesprochen haben, kam das öffentliche Leben zum Stillstand.
Gleichzeitig wollten wir an unserem Ziel festhalten, die Veranstaltung und unsere Gedanken zur Möglichkeit einer Belebung des kulturpolitischen Diskurses über den Forschungstransfer unter dem Schlagwort Cultural Policy zu verschriftlichen. Dafür sind sowohl der Austausch mit Akteur:innen als auch die verschiedenen Politikebenen, von der Kommune über das Land bis zum Bund, wichtig. Ebenso gilt es, die unterschiedlichen Arbeitszusammenhänge von der sogenannten Hoch- bis zur Sozio- und Clubkultur zu berücksichtigen. Cultural Policy lebt von ihrer Vielfalt und ihrer Rückbindung an unterschiedliche Lebenszusammenhänge und Legitimationsstrategien. Mit dem dritten Kapitel Expanding Perspectives: Im Austausch mit Akteur:innen der Kulturpolitik wollen wir dieser Vielfalt Rechnung tragen und veröffentlichen drei ausführliche Gespräche, die sich aus je unterschiedlichen Perspektiven der Ermöglichung und dem Stattfinden von Kultur nähern. Gesprächspartner sind der CDU-Bundestagsabgeordnete Rüdiger Kruse, Achim „Waseem“ Seger, Künstler und Kommunalpolitiker in München, sowie Tristan Marquardt, Lyriker, Kulturvermittler und -veranstalter.
Den Auftakt bildet ein Gespräch mit dem CDU-Haushaltspolitiker Rüdiger Kruse. Der Hamburger Bundestagsabgeordnete gibt Einblick in ein Jahrzehnt bundesdeutscher Kulturpolitik. Als Hauptberichterstatter für Kultur im Haushaltsausschuss gestaltete Kruse Kulturpolitik in den wirtschaftlich erfolgreichen Jahren nach der Finanzkrise, in denen der Bundestag regelmäßig Überschüsse generierte und der Bund auch mehr und mehr als kulturpolitischer Akteur auftrat. Kruse hat sich insbesondere für eine ergebnisoffene Förderung des Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW) als pulsierender Think-Tank in unmittelbarer Nähe zu Parlament und Kanzleramt eingesetzt. Als Museum ohne Sammlung bot das HKW ein Erfolgsmodell, das in München anlässlich des tragischen Tods Okwui Enwezor und der Strukturkrise des Hauses der Kunst diskutiert wurde. Im Gespräch mit Christian Steinau erläutert Kruse, wie es zur mehrjährigen Förderung des HKW gekommen ist und was er unter nachhaltiger Kulturpolitik versteht.
Eine andere Perspektive vertritt der Künstler, Aktivist und ehrenamtliche Kommunalpolitiker Achim „Waseem“ Seger. Waseem setzt sich für Diversität in der Kultur- und Kreativszene sowie kulturelle Teilhabe ein. Er organisiert Poetry Slams in Moscheen und engagiert sich bei Die Urbane – Eine HipHop Partei. Im Gespräch erläutert er die Schwierigkeit, die etablierte, überwiegend akademisierte, weiße, nicht-queere Kulturszene mit einzelnen Communities zu vernetzen und öffentliche Kulturförderung einem diverseren Kreis Kunstschaffender zugänglich zu machen. „Ich bin kein Politiker, der Vorgaben machen möchte“, beschreibt Waseem, „sondern ich bin Kulturschaffender, Künstler, Veranstalter, DJ, Poetry-Slammer, Rapper – alles Mögliche. Damit komme ich eher aus der anderen Richtung und würde die Kulturpolitik gerne aus der Szene heraus verändern, mitgestalten und ein Sprachrohr für die Kunst- und Kulturszene sein.“ Gerade die Frage der Repräsentation wird im Gespräch wiederholt thematisiert: „Generell bekommt man mit, dass die Subkulturen, Schwarze oder z.B. HipHop-Kulturen und Jugendkulturen nicht nur unterrepräsentiert, sondern auch unterfinanziert sind. Wenn man an Kulturgelder denkt, verbindet man damit eher den Gasteig oder Museen, die man als klassische intellektuelle Angebote sehen könnte.“
Als ein „klassisches intellektuelles Angebot“ wird oftmals auch die Lyrik wahrgenommen. Doch wie es tatsächlich um die Förderung von Lyrik jenseits marktkonformer Bestsellerlisten steht, schildert der Lyriker Tristan Marquardt im Interview. Er sei aus sehr pragmatischen Gründen zum Literaturvermittler geworden. „Ich habe mit der Zeit gemerkt, dass ich die Räume, in denen ich mich als Autor bewege, selbst mitgestalten will“, schreibt Marquardt. Er erklärt, wie er über das Veranstalten von Literatur- und Lyrikevents mit Kulturpolitik im weitesten Sinne in Kontakt kam und gibt einen Einblick in die historisch gewachsenen Strukturen der Literaturförderung, die seines Erachtens nicht mehr zeitgemäß seien: „Das führt momentan zu der teilweise paradoxen Situation, dass Autor*innen ihre Lebensweise an die Möglichkeiten der Finanzierung anpassen und nicht umgekehrt die Förderstrukturen daran angepasst sind, wie heute Literatur produziert und rezipiert wird.“ Schließlich gehe es um neue Allianzen zwischen Literaturbetrieb und Wissenschaft: „Sowohl die Literaturwissenschaften als auch der Literaturbetrieb“, so Marquardt, „können nur davon profitieren, wenn sie in Zukunft enger kooperieren und mehr Überschneidungsbereiche schaffen.“
Das vorliegende Kapitel stellt drei Positionen nebeneinander, die Selbstverständnis, Möglichkeiten und Grenzen der jeweiligen Arbeit als Haushaltspolitiker, Aktivist, Künstler und Kulturvermittler deutlich machen. Die drei Gespräche geben einen exemplarischen Einblick in die aktuellen Förderstrukturen, die zugrundeliegenden impliziten Machtverflechtungen und die Herausforderungen, vor denen die Kulturpolitik steht.