Tristan Marquardt wurde 1987 in Göttingen geboren. Er ist Lyriker, Literaturvermittler und Germanistischer Mediävist. 2019 erhielt er den Bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur.
Literaturveranstaltungen und Kulturpolitik
Christian Steinau: Lieber Tristan, es freut mich, mit dir sprechen zu können. Du bist Autor und Veranstalter von Lesungen und Literaturfestivals. Dein Engagement für die Lyrik ist durch eine starke Haltung geprägt. Du möchtest bewusst Räume für kulturelle Vielfalt gestalten. Dabei arbeitest du immer im Team mit anderen zusammen und schaffst kooperative und partizipative Strukturen. Wie bist du zum Veranstalten gekommen?
Tristan Marquardt: Eigentlich hatte ich nie vor, als Künstler auch Literaturveranstalter zu werden. Aber ich habe mit der Zeit gemerkt, dass ich die Räume, in denen ich mich als Autor bewege, selbst mitgestalten will. Anlass war, dass ich vor ca. 10 Jahren, als ich nicht mehr nur subkulturell in Berlin unterwegs war, festgestellt habe, dass die vorhandenen Räume für Literaturveranstaltungen und -vermittlung oft nicht mit dem übereinstimmten, was ich mir für den Umgang mit Literatur und insbesondere mit Lyrik gewünscht habe. Sie haben oft nur ein bestimmtes Publikum angesprochen, waren eher steril und gaben wenig Raum für Experimente.
Steinau: Also hast du die Initiative ergriffen?
Marquardt: Statt einfach nur unzufrieden zu sein oder mich anders zu orientieren, habe ich mir das Indie-Motto zu Herzen genommen: Mach, was dir fehlt, selbst. Die Frage war für mich nicht mehr, wo ich das, was ich suche, finden kann, sondern wie ich das, was ich suche, mitgestalten kann. Und auf diesem Wege habe ich in München schnell Leute kennengelernt, die ähnliche Anliegen hatten. Uns ging es darum, unprätentiöse Orte für die Begegnung mit Gegenwartslyrik zu schaffen. Orte, an denen man sich gerne aufhält und an denen man auch über die Veranstaltung hinaus zusammenbleibt. Als erstes haben wir 2012 die Lesereihe meine drei lyrischen ichs gegründet, und es war schön zu sehen, dass unser Anliegen vom Publikum, aber auch von anderen Literaturakteur*innen sehr dankbar aufgenommen wurde. Über die Jahre ist mir dann immer bewusster geworden, wie wichtig solche Orte für die Vermittlung von Literatur sind, zu der nicht alle sofort einen Zugang haben. Erstens können sie ein Setting schaffen, bei dem man einen besseren Eindruck davon bekommt, was in der Gegenwartslyrik passiert und warum das spannend ist. Und zweitens sind sie Orte der Begegnung, wo man sich mit anderen austauschen kann und mit der Auseinandersetzung nicht alleine ist. Dadurch habe ich begonnen, Literatur mehr und mehr auch als soziale Praxis zu denken und mich dafür einzusetzen, dass es mehr und diversere Räume gibt, wo Literatur auf die Bühne kommt und wo Menschen sich treffen, um sich über Literatur auszutauschen.
Steinau: In diesem Zusammenhang bist du dann auch mit Aspekten der Kulturpolitik im weitesten Sinne in Kontakt gekommen?
Marquardt: Die Mittel der Literaturförderung sind so überschaubar und umkämpft, dass man, wenn man neue Räume schaffen will, sehr schnell in Kontakt mit Kulturpolitik kommt. Es gibt einen großen Handlungsbedarf, die unterschiedlichen Bereiche der Literatur besser zu fördern, und dieses Umstands sind sich eigentlich alle, die sich ein wenig mehr mit den Strukturen befassen, bewusst – sowohl die Künstler*innen als auch die Verwaltungen. Deshalb bin ich in den letzten Jahren auch mit zwei verschiedenen Formen von Kulturpolitik in Kontakt gekommen: Zum einen sind da einzelne Personen in den Verwaltungen oder Institutionen, deren Handlungsspielraum begrenzt ist. Viele von ihnen habe ich als kooperativ und ermutigend kennengelernt. Oft sind sie sogar dankbar, wenn etwa aus dem Bereich der freien Literaturszene nicht nur allgemeine Beschwerden, sondern auch konkrete Vorschläge kommen, und ich habe nicht selten erlebt, dass die Kulturverwaltungen sich als Verbündete erwiesen haben, wenn es darum geht, sich für mehr Mittel einzusetzen.
Steinau: Und die zweite Form?
Marquardt: Das andere sind die bestehenden Strukturen der Förderung. Hier liegt im Literaturbereich und insbesondere mit Blick auf die Lyrik noch Vieles im Argen. Das hat zunächst einmal mit dem Umfang zu tun, in dem Literatur gefördert wird. Im Verhältnis zu anderen Kunstsparten erhält die Literatur verschwindend wenig Gelder und das hat mitnichten nur damit zu tun, dass sie technisch unaufwendiger ist. Der Grund scheint mir noch immer darin zu liegen, dass man Literatur fast ausschließlich mit dem Medium Buch assoziiert, Verlage primär als Wirtschaftsunternehmen begreift, bei denen die Autor*innen ihr Geld verdienen, und Preise und Stipendien gewissermaßen als nettes Surplus versteht, das vor allem Prestige bringt. Aber das hat alles nur sehr bedingt mit der Realität der Gegenwartsliteratur zu tun. Der kommerziell ausgerichtete Buchmarkt und das literarische Leben sowie die literarische Vielfalt an einzelnen Orten sind zwei Dinge, die zwar einige Berührungspunkte haben, aber auf keinen Fall deckungsgleich sind. Will man zweites erhalten und fördern, braucht man eine Literaturförderung, die strukturell neu aufgestellt wird. Die sich davon verabschiedet, vor allem eine Geste symbolischer Anerkennung zu sein, und sich wie in den Bereichen Film oder Theater mehr als Grundlagenförderung begreift.
Die Literaturförderung ist strukturell überholt
Steinau: Welche strukturellen Defizite siehst du genau?
Marquardt: Es geht einerseits um den Umfang der Förderung, andererseits aber auch darum, dass viele der gegenwärtigen Fördermaßnahmen nicht mehr zeitgemäß sind. Das führt momentan zu der teilweise paradoxen Situation, dass Autor*innen ihre Lebensweise an die Möglichkeiten der Finanzierung anpassen und nicht umgekehrt die Förderstrukturen daran angepasst sind, wie heute Literatur produziert und rezipiert wird. Ich möchte zwei Beispiele nennen. Das eine sind Stipendien. Sie sind nicht nur oft gering im Umfang, sondern in vielen Fällen auch ortsgebunden. Man muss dann für mehrere Monate an einem Ort leben, der nicht der eigene Wohnort ist, und es gibt teils strikte Regeln, wie lange man abwesend sein darf. Begleitungen sind nur selten erlaubt und in Einzelfällen ist sogar vorgeschrieben, dass man über bestimmte Themen schreiben muss. Das ist nur mit einer sehr flexiblen Lebens- und Arbeitsform vereinbar, schließt Menschen mit Familie nahezu komplett aus und auch solche, die – wie ich – mehrgleisig arbeiten. Gepflegt wird hier ein überkommenes Bild vom ungebundenen Autor; eine ausgewogene Förderung von Autor*innen mit unterschiedlichen Hintergründen ist das nicht. Das zweite Beispiel sind Lesereihen von freien Veranstalter*innen, von denen es in letzter Zeit immer mehr gibt und die viel dazu beitragen, Literatur an neue Orte zu bringen und ein neues Publikum für sie zu gewinnen. Sie können sich aktuell nahezu ausschließlich über Projektförderungen finanzieren, die an ein Haushaltsjahr gebunden sind. Das führt zu dem absurden Konstrukt, dass man sich jedes Jahr mit demselben Konzept aufs Neue bewerben und mit Geldern für Einzelprojekte eine auf Regelmäßigkeit angelegte Reihe finanzieren muss. Im Literaturbereich fehlen Fördermodelle für Formate, die auf Dauer angelegt sind. Was es bräuchte, wäre eine Basisförderung über mehrere Jahre, wie es sie im Theaterbereich schon verschiedentlich gibt. Sie würde auch den bürokratischen Aufwand erheblich reduzieren.
Steinau: Du beschreibst die Förderstrukturen als nicht mehr zeitgemäß. In Hinblick auf die bestehenden Instrumente der Literaturförderung stellt sich für uns im Rahmen des Cultural Policy Labs die Frage nach der historischen Genese dieser Strukturen. Die Theorie der Pfadabhängigkeit besagt ja, dass die Geschichte in gewisser Weise jede Möglichkeit der Weiterentwicklung bedingt.
Marquardt: Meine Beobachtung wäre, wie schon angedeutet, dass die aktuellen Förderstrukturen noch zu sehr davon ausgehen, dass der Buchmarkt die primäre Einnahmequelle für Autor*innen ist. Doch er ist in den letzten Jahrzehnten stark unter Druck geraten und der kommerziell ausgerichtete Teil repräsentiert die literarischen Stimmen und Gattungen längst nicht mehr in ihrer Vielfalt und Qualität. Das tun vermehrt die vielen unabhängigen Verlage, die sich in Reaktion darauf gegründet haben. Sie sind aber in der Regel nicht mehr auf Gewinn angelegte Unternehmen, sondern ihre Arbeit ist oftmals näher an der künstlerischen als an der unternehmerischen Praxis. Und da Literatur meiner Ansicht nach nicht nur einen kommerziellen, sondern vor allem auch einen ideellen Wert hat, gilt es, von Seiten der öffentlichen Hand auf diesen Strukturwandel zu reagieren. Die vermehrten Bemühungen um Verlagsförderung sind da ein Schritt in die richtige Richtung. Aber auch die anderen Medien und Erscheinungsformen von Literatur jenseits des Buchmarkts sollten dabei mehr Berücksichtigung finden.
Der Festivalkongress Fokus Lyrik als Treffen der Szene
Steinau: Als Veranstalter warst du ja auch an dem Festivalkongress Fokus Lyrik beteiligt. Was hat es damit auf sich?
Marquardt: Dort ging es konkret um die Lage und Zukunft der Gegenwartslyrik im deutschsprachigen Raum. Entstanden ist die Idee bei einem informellen Treffen von Veranstalter*innen aus Institutionen und freier Szene. Wir sind in der Hauptsache von zwei Beobachtungen ausgegangen: Erstens hat die Lyrik, etwa durch einzelne große Preise, in den letzten Jahren zurecht immer wieder mehr Aufmerksamkeit erhalten. Doch hat dies umso deutlicher gemacht, unter welch prekären Bedingungen sie entsteht und veröffentlicht wird. Zweitens gibt es in den unterschiedlichen Feldern, die sich mit Lyrik beschäftigen, unterschiedliche Bedürfnisse und unterschiedliche Ideen, wie sich die Situation verbessern ließe. Deshalb haben wir beschlossen, einen Festivalkongress zu veranstalten, bei dem alle ‚Gewerke’ zusammenkommen, die die Gegenwartslyrik mitprägen: Die Autor*innen, Übersetzer*innen, die Kritik, Verlage, Zeitschriften, der Buchhandel, die Schulen, Universitäten und die Veranstalter*innen. Vier Tage lang ging es darum, dass sich alle an einen Tisch setzen, die aktuelle Lage diskutieren, gemeinsam Ideen, Vorschläge und Forderungen entwickeln. Ermöglicht hat das das Kulturamt Frankfurt als Veranstalter in Kooperation mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Gefördert hat es die Kulturstiftung des Bundes und kuratiert haben Monika Rinck und ich.
Steinau: Wie sah der Festivalkongress dann letztendlich aus? Der Name sagt es ja schon, es war ein Festival und ein Kongress.
Marquardt: Monika Rinck hat den performativen Festivalteil kuratiert, bei dem auch neue Möglichkeiten des Veranstaltens erprobt werden sollten. Dort gab es Marathon-Formate wie eine achtstündige Vorlesungsreihe zur Geschichte der deutschsprachigen Lyrik und eine ganztätige öffentliche Jurydiskussion, bei der sich die Jury erst ihre Preiskriterien selbst geben musste und am Ende einen Gedichtband ausgezeichnet hat. Den diskursiven Kongressteil habe ich kuratiert. Hier haben zum einen öffentliche Podiumsdiskussionen zur Lage der Gegenwartslyrik stattgefunden. Zum anderen gab es nicht-öffentliche Round-Tables, bei denen sich die einzelnen ‚Gewerke’ getroffen haben, um ihre Positionen zu formulieren. Dabei ging es darum, konkrete Ideen zu versammeln, was getan werden kann und sollte, um die Lage der Lyrik im jeweiligen Bereich zu verbessern. Die Frankfurter Positionen wurden am Ende des Festivalkongresses präsentiert und sind auf der Homepage zu finden. Sie enthalten konkrete Forderungen und Vorschläge, dienen als Referenz und laden zur Weiterarbeit ein.
Freie Szene und Literaturorganisationen arbeiten gemeinsam an einer Stärkung der Lyrik
Steinau: Über das gemeinsame Verfassen von Positionen tritt man auch als Gruppe auf, was es für die Politik leichter macht, Forderungen zuzuordnen. Der Festivalkongress ist jetzt schon über ein Jahr her. Was ist seitdem passiert?
Marquardt: Die Frankfurter Positionen haben in verschiedenen Zusammenhängen, auf anderen Festivals und in Zeitschriften, zur weiteren Diskussion angeregt. Sie wurden am Ende des Festivalkongresses in die Hände des neugegründeten Netzwerks Lyrik übergeben, dem sie seither als eine wesentliche Grundlage für dessen ‚Lobby-Arbeit’ für die Lyrik dienen und dort weiterbearbeitet werden. Bei Fokus Lyrik und in den Frankfurter Positionen wurde als vielleicht grundlegendste Feststellung formuliert, dass Lyrik eine eigenständige Kunstform ist und als solche eigenständig gefördert werden muss. Dass es eigene Fördertöpfe für sie geben sollte und beispielsweise auf Bundesebene auch einen eigenen Lyrikfonds. Dafür ist das Bewusstsein in den letzten Jahren gewachsen und es hat seine Berechtigung angesichts der enormen Vielfalt und Lebendigkeit der Gegenwartslyrik. Es geht darum, Lyrik nicht mehr als eine Nische im Buchmarkt zu behandeln, sondern als die Kunstform der Sprache, die zu anderen Literaturgattungen ebenso im Verhältnis steht wie zur Musik, zum Theater oder zur Bildenden Kunst.
Steinau: Im Forschungsseminar Institutionelle Ästhetik haben wir auch über die Theorie des Isomorphismus gesprochen, mit der man im Theaterbereich eine Angleichung zwischen der Freien Szene und den großen Tankern, also den Stadt- und Staatstheatern, feststellen kann. Die Freie Szene institutionalisiert sich und ist gar nicht mehr so frei, wie der Begriff eigentlich den Anschein haben könnte. Das gilt auch für politische Mitsprache und die Forderung nach Strukturförderung. Kann man die Freie Szene in den Bereichen Lyrik/Literatur und Theater vergleichen?
Marquardt: Ja und nein. Vergleichbar ist, dass es im Bereich der Veranstaltungen neben den Literaturinstitutionen immer mehr freie Veranstalter*innen gibt, die wichtige Arbeit für die Literaturvermittlung leisten. Zu nennen wären da etwa die Lesereihen, von denen sich viele als Netzwerk der Unabhängigen Lesereihen zusammengetan haben und auch kulturpolitisch aktiv werden. Hier ist die Freie Szene der Darstellenden Künste uns in Vielem voraus und der Prozess der Institutionalisierung hat erst begonnen. Sicherlich anders ist es aber, dass im Theaterbereich Künstler*innen auch an Häusern angestellt sind, während es eine solche Trennung zwischen angestellten und ‚freien’ Künstler*innen im Literaturbereich nicht gibt. Das ist auch der Grund, weshalb in der kulturpolitischen Arbeit vielfach Allianzen entstehen, unabhängig davon, wie institutionalisiert man ist. Fokus Lyrik war ein gutes Beispiel dafür. Letztlich macht es im Literaturbereich aktuell auch wenig Sinn, die Institutionen und die freie Szene als Opposition zu begreifen, weil es in beiderlei Hinsicht noch zu wenig gibt: Wir brauchen sowohl mehr institutionalisierte Strukturen, die Räume und Jobs schaffen, als auch mehr Mittel für die Freie Szene, um der Selbstverständlichkeit der Selbstausbeutung entgegenzuwirken.
Es ist Aufgabe von Kulturpolitik, die sprachliche und mediale Vielfalt von Literatur zu fördern
Steinau: Im Rahmen des Konzepts Cultural Policy Lab setzen wir uns für ein Verständnis des Institutionellen Wandels ein. Das heißt, wir untersuchen Transformationsprozesse auf der Ebene der normativen Grundlagen des gesellschaftlichen Verständnisses von Kunst. Welche Veränderungen beobachtest du im Bereich der Literatur und/oder Lyrik?
Marquardt: Da wäre Vieles zu nennen, aber vielleicht konzentriere ich mich auf einen sprachlichen und einen medialen Aspekt. Beide sind mir besonders wichtig und bei beiden tun weitere Veränderungen not. Als normativ kann man es im Literaturbetrieb im deutschsprachigen Raum durchaus immer noch bezeichnen, dass er sich mit Blick auf Preise, große Bühnen und andere Anerkennungs-Räume fast ausschließlich für deutschsprachige Literatur oder aber für ‚internationale’ Literatur, also von anderssprachigen Autor*innen aus dem Ausland, interessiert. Viel zu wenig sichtbar ist hingegen, dass im deutschsprachigen Raum Literatur in sehr vielen Sprachen von sehr vielen Leuten verfasst wird, die hier leben und Teil der Gesellschaft und Kultur sind. Es ist eigentlich kaum zu erklären, warum diese Stimmen und Texte im Literaturbetrieb so unterrepräsentiert sind und warum Preise wie der Deutsche Buchpreis sie kategorisch ausschließen, sogar wenn sie hier entstehen, hier veröffentlicht und mehrheitlich hier rezipiert werden. In diesem Punkt muss sich, um bei deiner Formulierung zu bleiben, bei den „normativen Grundlagen des gesellschaftlichen Verständnisses von Kunst“ noch Vieles ändern. Aber es gibt auch erste Zeichen, dass sich langsam etwas tut. Ein Beispiel: Beim THEO, einem Preis für Junge Literatur, können sich seit Neuestem Jugendliche in allen Sprachen bewerben, wenn sie in Deutschland, Österreich oder der Schweiz wohnen (oder auf Deutsch, wenn sie nicht im deutschsprachigen Raum leben). Das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Steinau: Und welche Veränderungen beobachtest du in medialer Hinsicht?
Marquardt: Zumindest bis zum Ausbruch von Corona gab es den Trend, dass mehr Literaturveranstaltungen stattfanden und diese nach und nach auch mehr Publikum erreicht haben. Damit ging einher, dass Literatur, die genuin für die Bühne gedacht ist, präsenter war und die Vielfalt der literarischen Erscheinungsformen mehr Sichtbarkeit erfuhr. Das gilt zum einen für ganze Bereiche wie den Spoken Word, aber auch für Gattungen wie die Lyrik, wo in den letzten Jahren (wieder) vermehrt Texte für performative und intermediale Formate entstanden sind. In diesem Trend zum Performativen zeigt sich deutlich, dass es nur bedingt Sinn macht, die Lyrik strukturell gewissermaßen als kleine Schwester der Prosa zu betrachten, denn mit Blick auf performative Formate hat sie sehr viel mehr Berührungspunkte mit den Darstellenden und Bildenden Künsten sowie mit Musik und Videokunst. Nicht unerwähnt bleiben sollte in medialer Hinsicht aber auch, dass mehr und mehr digitale Text- und Publikationsformen erprobt werden. Hier sind meiner Einschätzung nach die Potenziale aber noch nicht ausgeschöpft, und im deutschsprachigen Raum hat sich insgesamt auch noch weniger getan als beispielsweise im englischsprachigen Bereich. Wir dürfen sehr gespannt sein, wie sich das in den nächsten Jahren entwickelt.
Steinau: Was folgt politisch aus deinen Überlegungen?
Marquardt: Die Förderpolitik ist im Literaturbereich noch zu exklusiv auf das Medium Buch ausgerichtet. Das Buch ist, gerade jetzt, unbedingt schützenswert und deshalb brauchen wir einerseits eine gute Leseförderung und eine noch umfassendere Verlagsförderung. Andererseits sollten die Förderformate für die Autor*innen selbst aber offener gestaltet sein. Sie sollten die Erscheinungsformen der Literatur in ihrer Vielfalt berücksichtigen und nicht nur Ergebnisse, sondern auch Prozesse fördern. Zudem braucht es für Literaturveranstaltungen mehr Räume, die auch für Formate jenseits der klassischen Wasserglas-Lesung ausgelegt sind. Ziel der Förderprogramme sollte es sein, eine möglichst große Vielfalt an literarischen Erscheinungsformen zu ermöglichen und nicht durch ihre Auflagen implizite Vorentscheidungen zu treffen, welche mehr wert sind als andere.
Neue Allianzen zwischen Literaturbetrieb und Wissenschaft
Steinau: Wo steht die Literaturwissenschaft in dieser Gemengelage? Und wie werden diese Fragen an der Universität diskutiert?
Marquardt: Auch hier wird zurzeit einiges angestoßen, was aber auch dringend nötig ist. Frieder von Ammon, der in Leipzig NDL-Professor ist, hat es unlängst bei einem Impulsvortrag auf einer Tagung des Netzwerks Lyrik pointiert auf den Punkt gebracht, als er sagte, dass der Hauptort, wo sich Gegenwartsliteratur und Literaturwissenschaft zurzeit begegnen, die Poetik-Vorlesung ist und dass er das problematisch findet. Zwar sei das eine Form der Anerkennung, doch käme dieses Format auch nur bestimmten Autor*innen entgegen und einen wirklichen Austausch der Disziplinen, zumal auf Augenhöhe, gebe es dadurch nicht. Wie sehr es an Letzterem mangelt, wird im Vergleich zu anderen Ländern, etwa den USA, besonders deutlich. In Deutschland ließen sich bis vor wenigen Jahren vor allem gegenseitige Vorbehalte beobachten. An den Unis bringt die Beschäftigung mit Gegenwartsliteratur vielerorts weiterhin wenig Prestige ein, und in Literaturkreisen gilt die akademische Auseinandersetzung mit Literatur oft als verdächtig. Doch gab es zuletzt, etwa bei Fokus Lyrik oder im Netzwerk Lyrik, auch vermehrt Bemühungen, den Dialog zu intensivieren. Angeregt wurden unter anderem mehr universitäre Einbindung von Autor*innen und eine vermehrte Zusammenarbeit der Disziplinen in Projekten, auf Tagungen und in Publikationen. Nun sind weitere Vorhaben in Planung und ich glaube, sowohl die Literaturwissenschaften als auch der Literaturbetrieb können nur davon profitieren, wenn sie in Zukunft enger kooperieren und mehr Überschneidungsbereiche schaffen.
Steinau: Lieber Tristan, vielen Dank für das Gespräch.