Der Gegenstand der Theaterwissenschaft ist die Aufführung. Das bedeutet, sie beschäftigt sich einerseits mit dem, was auf der Bühne passiert – sei es innerhalb der Historie beispielsweise mit der antiken Aufführungspraxis oder mit gegenwärtigen Phänomenen wie der Performancekunst. Andererseits nimmt sie in den Blick, dass eine Aufführung nur einmal stattfindet. Sie ist vergänglich und schließt in ihrem Live-Charakter alles ein, was hinter der Bühne und vor der Bühne passiert, weswegen Bereiche wie Publikumsforschung und kulturpolitische Rahmenbedingungen ebenso von der Theaterwissenschaft untersucht werden wie ästhetische Arbeiten.1 Daher steht „im Mittelpunkt der Analyse […] die Interaktion zwischen dem theatralen Ereignis und den anwesenden Zuschauern.“2
Dabei treffen unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten dessen, was innerhalb und außerhalb des Theaters als ‚theatrales Ereignis‘ zu verstehen ist, auf die jeweiligen gesellschaftlichen Voraussetzungen, mit Freigeist assoziiertes künstlerisches Schaffen auf vermeintlich erstarrte Strukturen. Dieses für die Theaterwissenschaft spezifische Verhältnis zwischen Ästhetik und Institution, zwischen Kunst und Politik, Kreativität und Bürokratie wurde innerhalb des Forschungsseminars Institutionelle Ästhetik betrachtet, das im Wintersemester 2019/2020 von Christopher Balme und Christian Steinau am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München geleitet wurde. Die Theaterwissenschaft München beschäftigt sich bereits seit mehreren Jahren mit der wechselseitigen Einflussnahme von Institution und Ästhetik. In diesem Zuge gründete sie 2016 das Forschungszentrum Institutionelle Ästhetik (inaes)3 und beteiligt sich wesentlich an dem DFG-Forschungsprojekt Krisengefüge der Künste,4 das ebenfalls die Beziehung zwischen Transformationsprozessen und Krisendiskursen im Kultursektor untersucht. Aus dem genannten Forschungsseminar ging die Pilotveranstaltung Cultural Policy Lab an den Münchner Kammerspielen hervor. Auf ihren Entstehungsprozess blickt dieser Text zurück.
Das Forschungsseminar Institutionelle Ästhetik im Wintersemester 2019/2020
Grundlegend für die Forschungsperspektive der ‚Institutionellen Ästhetik‘ ist eine Definition des Begriffes ‚Institution‘. Für das Forschungsseminar bezogen wir uns auf den Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Douglass North, der eine Theorie des institutionellen Wandels entwickelt hat. Diese Theorie lässt sich den Wirtschaftswissenschaften zuordnen und wird im Rahmen der ‚Institutionellen Ästhetik‘ auf die Bereiche der Kultur- und Kreativwirtschaft angewendet. Den Begriff ‚Institution‘ verwendet North in Abgrenzung zu ‚Organisation‘. Er definiert ‚Institutionen‘ als Spielregeln, wohingegen ‚Organisationen‘ die Spieler bilden: „The interaction between the two shapes institutional change.“5
Institutionen rahmen folglich zwischenmenschliche Beziehungen und Kommunikation. Sie nehmen sowohl die Gestalt formaler Gesetze als auch jene informeller Konventionen und Normen an. Organisationen hingegen bestehen stets aus Gruppen von Individuen, deren Handlungsspielraum durch die jeweiligen Institutionen vorgegeben wird – folglich können sich Veränderungen nur in einem durch die Institutionen vorgegebenen Rahmen vollziehen.6 In Bezug auf das Theater bedeutet das, dass die Institution Theater – beispielsweise die deutschsprachige Theaterlandschaft oder das Konzept Stadttheater – vorgibt, welchem Diskurs die Organisation Theater – also zum Beispiel ein einzelnes Theater wie die Münchner Kammerspiele oder deren Führungsebene – momentan folgt. Gleichzeitig geht es aber nicht nur um Trends, sondern um die Legitimität von künstlerischen Entscheidungen und die Akzeptanz sowohl ästhetischer als auch organisatorischer Transformationsprozesse.7 Das vorgegebene Regelsystem schließt sowohl implizite und explizite, als auch organisatorische und ästhetische Aspekte mit ein: „Gesellschaftliche Rahmenbedingungen bestimmen demnach nicht nur den Möglichkeitsraum, in dem Akteure agieren; vielmehr orientieren sie darüber, wie dieser Möglichkeitsraum genutzt wird.“8 Diese Denkweise über Institutionen und ihre Handlungsmacht wird nicht nur in der Wirtschaftswissenschaft, sondern auch in Soziologie und Politikwissenschaft dem Neo-Institutionalismus zugeordnet.9 Zwei plastische Beispiele: Die Verwendung des NV-Bühne10 an allen Mitgliedstheatern des Deutschen Bühnenvereins und die damit einhergehenden Arbeitsbedingungen und Gehälter der Künstler:innen können ebenso als institutionelle Spielregeln gewertet werden, wie die Frage, ob das Verwenden von Live-Kameras in einer Aufführung gerade en vogue ist.
Die zwei Beispiele verdeutlichen, dass jede Handlung einzelner Akteure innerhalb der Organisation (z.B. von Mitarbeiter:innen, Verwaltungsangestellten, Politiker:innen, Regisseur:innen etc.) einer Handlung als Spieler:in innerhalb des institutionellen Felds gleichkommt.11 Ein/e Spieler:in bzw. eine Organisation, muss allerdings nicht unbedingt aktiv agieren, um am ‚Spiel‘ teilzuhaben. Auch durch passives ‚Nichtstun‘ wird gehandelt, sodass die Interaktion zwischen den Normen und Werten der Institution und der Organisation zum Beibehalten eines Status Quo führt. Wenn nun durch Veränderungen in der Organisationsstruktur ein anderes Handeln der Organisation vorkommt, kann es zu nachhaltigen Veränderungen der Institution und somit zu einem Institutionellen Wandel kommen, der das gesamte Konzept beeinflusst.12 Ein Beispiel hierfür ist etwa die Ausweitung digitaler Angebote seitens einzelner Theater. Daraus resultiert nicht nur ein anderes Theatererlebnis, sondern auch andere Möglichkeiten der kulturellen Teilhabe.
Dieser Institutionelle Wandel, also eine Änderung der Rahmenbedingungen, in denen z.B. die Theater agieren und inszenieren, geht laut North nur sehr langsam vonstatten.13 Dabei sei der kollektive Einfluss von Institutionen und Organisationen relevant, da Institutionen verschiedenen Kulturformen – und damit verschiedenen Ausdrucksformen – unterschiedliche Werte im gesellschaftlichen Zusammenleben zuschrieben. Dies führe unweigerlich zu einer gewissen Grenzziehung zwischen Personen und Gruppen von Personen, die sich in unterschiedlichen Organisationen zusammenfinden. Das Zusammenspiel von Institutionen und Organisationen lässt sich auf die gesamte Kultur- und Kreativwirtschaft anwenden.14 anwenden.
Von der Theorie zur Praxis: Die Entwicklung des Cultural Policy Labs
Im Forschungsseminar beschäftigte uns nicht nur die Frage, was unter einer Institution zu verstehen sei, sondern auch jene, wie wir uns als Forschungsseminar und als Student:innen – vornehmlich der Theaterwissenschaft, aber auch anderer Geisteswissenschaften – zu dem von uns betrachteten Themenkomplex positionieren. Wir wollten also einerseits Institutionenanalyse betreiben und andererseits im Blick behalten, dass wir als Student:innen und Forscher:innen ebenfalls Teil einer Institution sind, nämlich der Universität. Dabei standen die gemeinsame Diskussion und Debatte im Vordergrund, was wir in das Konzept des Cultural Policy Labs übernehmen und einschreiben wollten.
Innerhalb eines offenen Diskussionsformats verstanden wir uns als aktive Beobachter:innen, die einen Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis anstreben. Bei der Vorbereitung war uns daher die Auseinandersetzung mit der sozialen Konstruktion wissenschaftlicher Erkenntnisse besonders wichtig. Es sollte ein Format gefunden werden, das die Präsentation der Seminarergebnisse als Work-In-Progress und Arbeitsstand ‚inszeniert‘ und Bürger:innen und Kulturschaffende zum gemeinsamen Nachdenken über Transformationen innerhalb des Kultursektors einlädt. Diese Entscheidung beruhte auch auf der Idee, die Inhalte des Seminars diskursiv an den Erfordernissen der Praxis auf ihre Anwendbarkeit hin zu erproben. Aus diesen Gedanken heraus entstand die Idee einer kulturpolitischen Laborsituation.
Die Münchner Kammerspiele als Veranstaltungsort folgten in unserer konzeptionellen Idee dabei dem Bild des Stadttheaters als Heterotopie, das Christopher Balme in Anlehnung an Michel Foucault beschreibt. Das Theater bildet hier – wie übrigens auch die Universität – ein System von Öffnungen und Schließungen, das nur über bestimmte Schwellen hinweg erreicht werden kann.15 Wie lässt sich Teilhabe für alle Menschen garantieren? Wer lernt die Spielregeln der Institution Theater wann und wie kennen? Was bedeutet es, Künstler:in zu sein, und wer ist das überhaupt? Im Cultural Policy Lab können sich Student:innen, Forscher:innen, Angehörige der (Münchner) Kultur- und Kreativszene sowie Kulturpolitiker:innen, Zuschauer:innen und weitere Interessierte begegnen und austauschen. Diese Begegnung beinhaltet sowohl eine diskursive wie auch eine politische und architektonische Dimension, weswegen sich die Veranstaltung in drei Teile gliederte: Im ersten stellten wir in vier Lab-Stationen Forschungsaspekte aus dem Seminar zur Diskussion, die sich in die Themenfelder Stadt als Kunst, Besucherforschung, Inklusion und Diversität sowie Arbeitsbedingungen im Kulturbereich teilten. Anschließend stellten Akteur:innen aus der Münchner Kultur- und Kreativszene ihre Tätigkeiten und Erfahrungen vor, bevor im dritten Teil mit Politiker:innen, die sich für die anstehende Kommunalwahl hatten auftstellen lassen über die konkrete kulturpolitische Situation in München debattiert wurde. Im Verhältnis zum Forschungsseminar Institutionelle Ästhetik standen für uns Interdisziplinarität und Transdisziplinarität sowohl bezüglich der eingeladenen Gäste als auch der wissenschaftlichen Fachrichtungen im Fokus. Denn, so die These, gesellschaftliche Transformationsprozesse, ihre Reflexion in der Kulturbranche und -politik sowie deren Betrachtung an der LMU, entfalten ihre Relevanz erst im Gespräch mit Praktiker:innen und der Stadtgesellschaft, deren Teil letztendlich auch die Universität ist.
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Vgl. Erika Fischer-Lichte. Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Faches. (Tübingen: Narr Francke Attempto), 2010, 13ff., 24f. ↩︎
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Christopher Balme. Einführung in die Theaterwissenschaft. 5. bearb. u. erw. Aufl., (Berlin: Erich Schmidt, 2014), 88. ↩︎
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Vgl. LMU München. „Forschungszentrum Institutionelle Ästhetik (inaes),“ letzter Zugriff am 31.01.2021, https://www.inaes.kunstwissenschaften.uni-muenchen.de/index.html. ↩︎
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Vgl. LMU München. „Krisengefüge der Künste,“ letzter Zugriff am 31.01.2021, https://www.krisengefuege.theaterwissenschaft.uni-muenchen.de/index.html. ↩︎
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Douglass North. „Five Propositions about Institutional Change.“ In Explaining Social Institutions, hg. von Jack Knight und Itai Sened, 15-26, (Ann Arbor: University of Michigan Press, 1995), 15. ↩︎
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Vgl. ebd. 15f. ↩︎
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Vgl. Paul DiMaggio und Walter W. Powell. „The Iron Cage Revisted: Institutional Isomorphism and Collective Rationality in Organizational fields.“ American Sociological Review, Vol. 48, No. 2 (April, 1983): 147-160, 150. ↩︎
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Raimund Hasse und Anne K. Krüger. „Außenbezüge, Binnendifferenzen und neue Herausforderungen des Neo-Institutionalismus. Eine Übersicht.“ In Neo-Institutionalismus. Kritik und Weiterentwicklung eines sozialwissenschaftlichen Forschungsprogramms, hg. von dens., 9-34, (Bielefeld: transcript, 2020), 12. ↩︎
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Der Neo-Institutionalismus wird als neue Denkrichtung inhaltlich seit den 1980er Jahren in Soziologie, Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaft vorangetrieben. Er zeichnet sich durch unterschiedliche Schwerpunktsetzungen in den einzelnen Disziplinen aus, die jedoch alle Organisationsforschung und world polity-Forschung in den Blick nehmen. Vgl. a.a.O. Hasse und Krüger. „Außenbezüge, Binnendifferenzen und neue Herausforderungen des Neo-Institutionalismus. Eine Übersicht,“ 10-16. ↩︎
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Beim Normalvertrag Bühne handelt es sich um einen Tarifvertrag, der zwischen dem Deutschen Bühnenverein und der Genossenschaft deutscher Bühnen-Angehöriger beschlossen wurde. Vgl. Deutscher Bühnenverein. „Allgemeine Tipps und Informationen – Tarifverträge / Arbeitsverträge,“ letzter Zugriff am 31.01.2021, http://www.buehnenverein.de/de/jobs-und-bildung/berufe-am-theater-ueberblick/tarifvertraege.html / Vgl. Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger. „Normalvertrag Bühne – aktuelle Änderungen,“ letzter Zugriff am 31.01.2021, https://www.buehnengenossenschaft.de/recht/normalvertrag-buehne-recht. ↩︎
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Vgl. a.a.O. North. „Five Propositions about Institutional Change,“ 18. ↩︎
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Vgl. a.a.O. DiMaggio und Powell. „The Iron Cage Revisted: Institutional Isomorphism and Collective Rationality in Organizational fields,“ 148ff. ↩︎
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Vgl. a.a.O. North. „Five Propositions about Institutional Change,“ 19f. ↩︎
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Vgl. Paul DiMaggio. „Cultural Boundaries and Structural Change: The Extension of the High Culture Model to Theater, Opera, and the Dance, 1900-1940.“ In Cultivating Differences: Symbolic Boundaries and the Making of Inequality, hg. von Michèle Lamont and Marcel Fournier, 21-67, (Chicago: University of Chicago Press, 1992), 21. ↩︎
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Vgl. Christopher Balme. „Stadt-Theater: Eine deutsche Heterotopie zwischen Provinz und Metropole.“ In Großstadt. Motor der Künste in der Moderne, hg. von Burcu Dogramaci, 61-76, (Berlin: Gebr. Mann, 2010), 62f. ↩︎