Vor 41 Jahren beschloss ich, mir die Bühne über den Bauch statt über den Kopf zu erarbeiten. Damit endete mein Studium der Theaterwissenschaft noch bevor es begonnen hatte. Allerdings stellte ich in der Folge fest, dass es intensiver Kopfarbeit bedarf, bevor der Bauch sich überhaupt auf der Bühne entfalten kann. Umgekehrt aber findet sich der Kopf im Vakuum leerer Zuschauerränge wieder, wenn er dem Bauch nicht genug Raum bietet …
Gestern nun genoss ich die Vorzüge eines Grenzgangs zwischen theoretisch gedachter und praktisch erlebter Kunst und Kultur. Für mich persönlich schloss sich damit ein Lebenskreis im gedanklichen Austausch nicht nur mit Kolleg*innen aus der Münchner Kunst- und Kulturszene, sondern erstmals und vor allem mit Vertreter*innen jener einst von mir geschmähten Theaterwissenschaft, genauer gesagt mit den Studierenden des Forschungsseminars Institutionelle Ästhetik, die aktuelle Forschungsperspektiven auf Herausforderungen der Kulturpolitik und des Kulturbereichs vorstellten. Unter ‚Institutioneller Ästhetik‘ verstand sich in diesem Zusammenhang das künstlerisch-kulturelle Erscheinungsbild der Hochkultur-Einrichtungen in München.
Insofern waren die Münchner Kammerspiele genau richtig gewählt und doch als Veranstaltungsort keine Selbstverständlichkeit. Mit Aufnahme des Cultural Policy Lab in ihr Programm, setzten sie den Weg fort, den sie mit der Intendanz von Matthias Lilienthal häufiger eingeschlagen hatten und öffneten sich einmal mehr dem symbiotischen Zusammenwirken des staatlich / städtischen Kulturwesens mit der Freien Münchner Szene. Solcherart Paarung findet leider noch immer nicht in der Bandbreite statt, in der ich sie mir zum gegenseitigen Nutzen beider Seiten wünschen würde: Hochkulturtempel verfügen über eine Reichweite hinein in das Bildungsbürgertum, von der die Freie Szene in der Regel nur träumen kann. Auf der anderen Seite gehen neue Strömungen zunächst vor allem aus dem Wildwuchs einer Freien Szene hervor, die sich Experimente in einem Ausmaß leisten kann, wie es auf dem hochkulturigen Präsentierteller nicht mehr möglich ist. Im Gegenzug dazu steht Hochkultur für qualitativ ausgefeiltere Darbietungen, die jedoch mitunter die Intensität ‚frei‘ produzierter Kunst auf dem Altar der Perfektion opfern.
Das Symposium wandte sich an alle Interessierten, die sich mit dem Spannungsfeld Wissenschaft, Kunst, Kultur und Kulturpolitik auseinandersetzen. Diese konnten unter vier Tischrunden (LABs) wählen, an denen Kurzreferate und Diskussionen zu unterschiedlichen Themenkreisen stattfanden. Da waren FAUSTS STUDIERZIMMER im Angebot, LATOUR‘S KITCHENTABLE oder auch LE LABORATOIRE 12, RUE CUVIER. Ich entschied mich für letzteres, das unter der Leitung von Hanna van der Heijden, Masterstudentin der Musik- und Theaterwissenschaften an der LMU stattfand. Phantasievoll benannt war das laboratoire nach der historischen Pariser Adresse des Ehepaars Curie, ausgestattet mit kleinen, aber wirkungsvollen Accessoires, wie etwa einer Grafik, die sich über die gesamte Tischfläche zog, sowie zahlreichen Laborflaschen und Reagenzgläsern. Da hatte sich die Bühnenbildnerin augenscheinlich Gedanken gemacht.
Gewählt hatte ich das laboratoire, da Hannas Themenschwerpunkt um die existenzielle Frage aller Kunst- und Kulturschaffenden kreiste: Jene nach dem nicht erschienenen Publikum. Aufgrund der knapp bemessenen Zeit war es zwar nicht möglich, in die Tiefe zu diskutieren, aber ich empfand allein schon die Wortmeldungen der Kolleg*innen als hochspannend, da ich viel Neues aus ganz unterschiedlichen Ecken erfuhr, mit denen ich teilweise noch gar nicht in Berührung gekommen war; so etwa von einem bevorstehenden Jugendprojekt im Lenbachhaus, dessen Projektleiter sich ebenfalls im laboratoire eingefunden hatte. Deborah Henschel von den Jusos München berichtete von der Ausgrenzung statt Inklusion bestimmter Jugendgruppen, da diese von manchen städtischen Entscheidungsträgern als “nicht angemessen” eingestuft wurden. Susanne Hermanski, Leiterin des Ressorts „Kultur“ der Süddeutschen Zeitung ließ uns an ihren umfassenden Erfahrungen im Kulturbetrieb teilhaben, während Hanna van der Heijden Forschungsergebnisse zum Zuschauerverhalten, dessen Hintergründe und Entwicklungen präsentierte, die sich weitgehend mit meinen Erfahrungen deckten. In diesem Rahmen fand ich sie bestätigt und vor allem konkretisiert.
Besonders nachhaltig beschäftigt hat mich das Referat von Bernhard Springer, Künstlersprecher der Domagkateliers und engagiert im Verein #EXIST – Raum für Kunst. Anschaulich schilderte er die Rückentwicklung der Domagkateliers, von der einst größten Künstlerkolonie Deutschlands zu einem einzigen Haus mit 100 Ateliers. Diese wurden von der Stadt aufgekauft und nach der Auswahl durch eine städtische Jury in einem 5-Jahre-Rotationsprinzip an Münchner Künstler*innen vergeben werden. Wenn man bedenkt, dass sich München einst, dank des weltweiten Renommees seiner Künstlerfürsten, internationaler Strahlkraft erfreute, finde ich die einseitige Ausrichtung auf mehr Wohnraum kurzsichtig. Vielmehr müssten Kunst und Kultur bei Großbau-Projekten schon in der Planungsphase mitgedacht werden. Ausgearbeitete Ideen seitens der Domagk-Künstlerschaft wären auch vorhanden, scheitern aber allzu oft am Desinteresse der zuständigen Referate. Immer wieder sei medialer Druck nötig gewesen, um überhaupt Termine bei Entscheidungsträger*innen zu bekommen, so Springer.
Mein Fazit: Schöpfertum und Forschertum schließen einander nicht aus! Im Gegenteil können sie einander befruchten, solange sie sich gegenseitig die Waage halten, und man nicht versucht, aus wissenschaftlichen Erkenntnissen Kunst zu konstruieren. Soweit zu meinen Überlegungen 2020 gegenüber denen von 1979. Unverändert bin ich Bauch und Bühne, würde aber gerne meinen Austausch mit Studierenden der Theaterwissenschaft an der LMU vertiefen, da ich mir von ihnen, aus wissenschaftlicher Distanz, wertvolle Fakten und somit Impulse verspreche.
UND: Ein unbedingtes da capo für das das Format Cultural Policy Lab! Innerhalb von nur drei Stunden einen derart intensiven Austausch über Kunst und Kultur, aus so vielen unterschiedlichen Perspektiven zu erleben und spannende Kolleg*innen kennenzulernen, waren für mich Erfahrungen, die nach Wiederholung schreien – zumal, wenn man bedenkt, dass sich an dem Nachmittag noch eine Podiumsdiskussion anschloss, für die ich nur leider nicht mehr aufnahmefähig genug war. Chapeau auch an die Studierenden des Forschungsseminars Institutionelle Ästhetik unter der Leitung von Christian Steinau, denen es gelungen ist, so unterschiedliche wie inhaltlich bereichernde Persönlichkeiten aus Forschung, Politik, Kunst und Kultur an einem Ort zu versammeln, der aufgrund seines Prestiges schon im Vorfeld für gebührende öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt hat!
Gaby dos Santos Gründerin der Kulturplattform jourfixe-muenchen Mehr zu Gaby dos Santos unter: www.gaby-dos-santos.de