‚Auf Augenhöhe‘, ‚Kultur für alle‘, ‚Gemeinsam‘, ‚Begegnung‘ – diese und ähnliche Schlagworte sammeln sich auf dem großen orangefarbenen Plakat an der Lab-Station Latour’s Kitchen Table. Hier brainstormt die für den Moment zusammengekommene Arbeitsgruppe zur Bedeutung von Inklusion und Diversität im Kultursektor. Grundlage der Diskussion bildete ein Kurzinput zum Thema, innerhalb dessen Beispiele der Auseinandersetzung in München, wie die Reihe All Inclusive am Metropoltheater1 oder die Inszenierungen Luegen von Verena Regensburger (Premiere: 21.04.2017) und Mittelreich von Anta Helena Recke (Premiere 12.10.2017) an den Münchner Kammerspielen, vorgestellt wurden. Zudem beleuchtete er, inwiefern die Setzungen der UN-Behindertenrechtskonvention in der gegenwärtigen Kulturpolitik aufgegriffen werden. Einen Rückblick darauf gibt dieser Text.
Ein Vokabular für eine inklusive Gesellschaft finden
Der Begriff Inklusion kann sich auf verschiedene Personengruppen beziehen, die aus verschiedenen Gründen aus gesellschaftlichen Kontexten, Erlebnissen, Prozessen und Entscheidungen ausgeschlossen werden, wie der Soziologe und Erziehungswissenschaftler Max Fuchs beschreibt: „In einer Kurzform kann man das Ziel der Inklusion so beschreiben, dass es darum geht, alle Barrieren, die eine umfassende Teilhabe (in unserem Kontext: an der Nutzung und Gestaltung unserer Kultur) verhindern, abzubauen. Es geht dabei stets um beide Dimensionen: um Rezeption und Produktion.“2 Hierbei sei zwischen einem weiten und einem engen Inklusionsbegriff, der sich auf Menschen mit ‚Behinderung‘ bezieht, zu unterscheiden.3 Inklusion steht damit in semantischer Beziehung zum Konzept der Diversität. Beide können folglich gemeinsam gedacht und diskutiert werden, bearbeiten sie doch gleichermaßen Bewegungen von Diskriminierung sowie Privileg und Ausschluss aufgrund von Differenz. Diese können nicht nur aus körperlichen oder geistigen Konditionen resultieren, sondern z.B. auch aus Sexualität, Religion oder Herkunft.
Im Lab legte sich der Fokus des Austausches jedoch vorrangig auf den engen Inklusionsbegriff. Versuchsweise wurde der aus dem angloamerikanischen Diskurs übernommene Term der mixed abilites auf Menschen mit ‚Behinderung‘ bezogen– innerhalb der Runde ein erster Anlass zur Diskussion, werde die Begriffsschwierigkeit in Deutschland doch wenig und, wenn überhaupt, eher anhand persönlicher Präferenzen besprochen. Der Begriff der mixed abilites wird zugunsten eines wertfreien Denkens und der Überwindung eines mit ‚Behinderung‘ verbundenen Stigmas eingeführt und eignet sich beispielsweise für die Beschreibung inklusiver Theaterensembles.4 Dennoch birgt er die Problematik, alltägliche Lebensumstände und Schwierigkeiten mehr zu verschleiern als zu benennen. Deswegen sei die Debatte, so Max Dorner, Aktivist, Autor und beim Münchner Kulturreferat verantwortlich für den Bereich Kunst und Inklusion, inzwischen wieder beim Begriff der ‚Behinderung‘ angekommen – allerdings im Sinne von ‚behindert werden‘ und nicht ‚behindert sein‘.5 Sie orientiert sich folglich an einer Idee von ‚Behinderung‘ als soziale Kategorie, die jene als gesellschaftliches Konstrukt entlarvt.6 Dieses gilt es durch das Konzept von Inklusion zu überwinden und in ein Positiv der selbstverständlichen Vielfalt menschlichen Lebens und Erlebens umzukehren.7 Um dies sprachlich zu markieren, wird der Begriff ‚Behinderung‘ in diesem Text in einfache Anführungszeichen gesetzt verwendet.
Eine Gesellschaft, die das Konzept Inklusion gelungen umsetzt, würde das Wort Inklusion folglich nicht mehr benötigen, da unterschiedliche körperliche und geistige Konditionen, Voraussetzungen und Fähigkeiten selbstverständlich als gleichwertig und wertvoll wahrgenommen würden – mixed abled im besten Sinne. Dies beschreibt auch die Zielsetzung der 2008 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention.8 Das Gespräch im Cultural Policy Lab zeigt, wie viel Arbeit bis dahin noch in den Strukturen und in den Köpfen zu leisten ist, denn grundlegende Voraussetzung für die Realisierung von Inklusion bildet das Reflektieren der eigenen Wahrnehmungsweisen und Denkmuster. „[Denn]“, so der Politikwissenschaftler Thomas Noetzel und der Kunsthistoriker Jörg Probst, „[e]chte Inklusion heißt, Gemeinschaften zu pflegen, in denen die Souveränität der Distanzierung von eigenen Wahrnehmungs-Sinnstiftungsstrukturen gelingt: Wackeln ist Tanzen – im eigenen Körper und in den Augen der Anderen!“9
Dimensionen von Inklusion aufzeigen
Daraus ergeben sich zwei zu problematisierende Aspekte: Erstens ist Inklusion eng mit Barrierefreiheit verknüpft, d.h. mit der Zugänglichkeit von Orten, Veranstaltungen und Medien für alle Mitglieder der Gesellschaft.10 Dass unterschiedliche Barrieren unterschiedliche Überwindungsstrategien verlangen, kann in diesem Sinne als Herausforderung des Inklusionskonzeptes beschrieben werden. Während eine blinde Person beispielsweise nicht von einer Gebärdensprachdolmetscherin profitiert, nutzt einem gehörlosen Menschen die Audiodeskription für Film und Theater nicht. Wie also kann Inklusion im Sinne allumfassender Teilhabe,11 zum Beispiel am Theater umgesetzt werden?
Teilhabe findet, so die Arbeitsthese, auf drei Ebenen statt: Erstens auf der Ebene des Publikums, die sich auf die von Fuchs benannte Rezeption von Kulturerzeugnissen bezieht, zweitens auf der Ebene der Kulturschaffenden und damit der Produktion von Kunst, und drittens auf der Ebene des Inhalts. Konkret lässt sich Teilhabe etwa anhand folgender Fragen überprüfen: Ist der Spielort barrierefrei zugänglich? Kommen Figuren mit ‚Behinderung‘ in Theaterstücken vor und von wem werden sie gespielt? Finden sich darin inklusive Gesellschaftsentwürfe? Wessen Stimme ist zu hören, wer wird sichtbar und wer wird durch wen empowert? Diese Fragen verdeutlichen um ein weiteres die Notwendigkeit, sich mit Begriffsdefinitionen und der verwendeten Sprache auseinanderzusetzen.
Inklusion und Diversität als verzahnte Konzepte in der Theaterwissenschaft anwenden
In der Theaterwissenschaft können die oben genannten Fragen unter anderem an die Konzepte Inklusion und Diversität gestellt werden, wenn es eine Theateraufführung zu analysieren gilt. Diese wird dabei als Ereignis, das live und einmalig stattfindet, betrachtet. Gleichzeitig steht die dreifache Interaktion von Publikum, Darstellenden und inhaltlicher Auseinandersetzung im Fokus, denn im Theater werden Akteur:innen und Zuschauer:innen direkt miteinander konfrontiert.12 Zugleich nehmen die Darsteller:innen zwar eine Rolle ein, können ihren privaten Körper aber nicht ablegen. Folglich sehen die Zuschauenden den Körper der Schauspielenden stets in deren doppelten Funktionen als Privatpersonen sowie der von ihnen gespielten Figuren auf der Bühne. Eine gelungene Darstellung schließt in dieser Definition zumeist ein Vergessen des privaten Körpers, der in den Augen der Zuschauenden hinter der Figur zurücktritt,13 ein – ‚Wackeln ist Tanzen‘, wie Probst und Noetzel konstatieren.14 Dies stellt sich jedoch in allen Kunstsparten als Herausforderung heraus, wie die Runde im Lab diskutiert: allzu oft werden Künstler:innen, die beispielsweise blind sind oder im Rollstuhl sitzen, aufgrund von äußerlichen Merkmalen in klischeehaften Rollen besetzt oder im Zusammenhang mit ihrer Kunst nur mit ihrer ‚Beeinträchtigung‘ genannt. Dies führt häufig zu einer Rezeption ihrer Kunst unter dem Paradigma des ‚Obwohl‘, was sie zu wenig als gleichberechtigte und gleichwertige künstlerische Subjekte sichtbar macht.15
Zugleich verdeutlicht dieses Dilemma, dass die Künste sowohl ästhetisch als auch organisatorisch an die Konzepte Inklusion und Diversität herangehen müssen, um wirklich inklusiv und diversitätsorientiert zu arbeiten. Die große Chance der Kulturbranche – und damit auch der Einflussmöglichkeiten der Kulturförderung – liegt darin, das Denken der Menschen und ihr Empfinden von Normalität zu beeinflussen und mitgestalten zu können. Denn: Sowohl Inklusion als auch Diversität als politische Ziele lassen sich nicht allein durch gesetzliche Regelungen, sondern vor allem durch ein gesellschaftliches Umdenken erreichen. Als Voraussetzung dafür formulieren die Teilnehmenden im Lab ein Interesse an anderen Menschen und ihren Gedanken, das durch künstlerische Auseinandersetzung geweckt und verfolgt werden kann. Um dem problematisierten ‚Obwohl‘ entgegenzuwirken, brauche es aber konkrete Maßnahmen von Kommune, Land und Bund. Diese sollten eine Aufforderung an Kulturschaffende, Inklusion zu bearbeiten, aber auch entsprechende Finanzmittel beinhalten. Die Stadt München hat sich diesbezüglich u.a. mit ihrem Koordinierungsbüro zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und dem Slogan ‚München wird inklusiv‘ auf den Weg gemacht.16 Einige Monate nach der Lab-Diskussion und vor dem Hintergrund der Einflüsse der weltweiten COVID19-Pandemie und deren Auswirkung auf Teilhabe, bleibt die gesellschaftliche Arbeit an einer inklusiven Gesellschaft daher umso aufmerksamer und kritischer zu beobachten.
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Vgl. Metropoltheater. „All Inclusive,“ letzter Zugriff am 01.08.2020, https://www.metropoltheater.com/all-inclusive.html. ↩︎
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Max Fuchs. „Wie hast du’s mit der Inklusion? Grundlegung einer inklusiven Kulturpolitik.“ In Inklusive Kulturpolitik. Menschen mit Behinderung in Kunst und Kultur. Hg. von Jakob Johannes Koch, 15-34 (Kevelaer: Butzon & Bercker, 2017), 17 [Hervorhebung im Original]. ↩︎
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Vgl. ebd. ↩︎
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Vgl. dazu den Eintrag im Cambridge Dictionary, das den Begriff mixed-ability vor allem für den Schulkontext unter der Bedeutung, dass Schüler:innen unterschiedlicher (Lern-)Fähigkeiten einbezogen werden, einführt. Vgl. Cambridge Dictionary. „Mixed-ability,“ letzter Zugriff am 23.08.2020, https://dictionary.cambridge.org/dictionary/english/mixed-ability. ↩︎
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Vgl. Max Dorner, Diskussionsbeitrag Cultural Policy Lab, Latour’s Kitchen Table, 15.02.2020. ↩︎
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Vgl. Dominik Baldin. „Behinderung – eine neue Kategorie für die Intersektionalitätsforschung?“ In Behinderung und Migration. Inklusion, Diversität, Intersektionalität, hg. von Gudrun Wansing und Manuela Westphal, 49-71, (Wiesbaden: Springer VS, 2014), 59. ↩︎
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Vgl. Bea Gellhorn. „Kunst und Kultur im Kontext der Inklusionsdebatte. Gleichberechtigte Teilhabe und -teilnahme am Kulturbetrieb.“ In a.a.O. Inklusive Kulturpolitik, 35-56, 51. ↩︎
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Vgl. Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Hg. Die UN-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Die Amtliche gemeinsame Übersetzung von Deutschlang, Österreich, Schweiz und Lichtenstein. Stand November 2008, PDF auf der Website des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a729-un-konvention.pdf;jsessionid=DFA9E64724D40FB09E5322A621993DED?__blob=publicationFile&v=4, Artikel 30, (1) und (2), 26. ↩︎
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Thomas Noetzel und Jörg Probst. „Behinderung und Krankheit als Stigma? Zur Ambivalenz von Kategorisierungen normabweichender Kunst und Kultur.“ In a.a.O. Inklusive Kulturpolitik. 57-75, 61. ↩︎
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Vgl. Anne Haage und Christian Bühler. „Barrierefreiheit.“ In Handbuch Inklusion und Medienbildung, hg. von Ingo Bosse, Jan-René Schluchter und Isabel Zorn, 207-215 (Weinheim, Basel: Beltz Juventa, 2019), 207. ↩︎
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Teilhabe umfasst in diesem Verständnis vier für das Recht auf Bildung formulierte Bestandteile: Availability, Accessability, Acceptability und Adaptability. Vgl. Melanie Schaumburg. „Berufsfeld Kulturelle Bildung.“ In a.a.O. Handbuch Inklusion und Medienbildung, 181-188, 184. ↩︎
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Vgl. Christopher Balme. Einführung in die Theaterwissenschaft. 5. bearb. u. erw. Aufl. (Berlin: Erich Schmidt, 2014), 88f. ↩︎
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Vgl. Jens Roselt und Christel Weiler. Aufführungsanalyse. Eine Einführung. (Tübingen: Narr Francke Attempto, 2017), 173. ↩︎
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Vgl. a.a.O. Noetzel und Probst, „Behinderung und Krankheit als Stigma?“, 61. ↩︎
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Vgl. Olaf Zimmermann. „Nichts ist langweiliger als Normalität. Chancengleichheit für behinderte Künstler, denn normale Künstler gibt es sowieso nicht.“ In a.a.O. Inklusive Kulturpolitik. 159-173, 164f. ↩︎
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Vgl. Landeshauptstadt München, Sozialreferat, Koordinierungsbüro zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in München. „München wird inklusiv,“ letzter Zugriff am 25.09.2020, https://muenchen-wird-inklusiv.de/. / Vgl. Landeshauptstadt München, Sozialreferat, Koordinierungsbüro zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, Hg. 2. Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Broschüre als PDF-Datei, 2019, https://www.muenchen-wird-inklusiv.de/wp-content/uploads/2.Aktionsplan-UN-BRK_barrierefrei.pdf. ↩︎