Eine gekürzte Version dieses Artikels erschien in den Kulturpolitischen Mitteilungen, 2/2020. Der Bericht wurde von der durch das Praxisbüro des Departements Kunstwissenschaften der LMU München geförderten studentischen Forschungsgruppe verfasst, die aus dem Forschungsseminar Institutionelle Ästhetik im Wintersemester 2019/20 das Konzept des Cultural Policy Lab entwickelte und eine erste Modellveranstaltung in den Münchner Kammerspielen durchführte.
Die Welt ist laut Bruno Latour kein solider Kontinent aus Fakten, sondern ein riesiger Ozean von Ungewissheiten. Wie Recht der Philosoph mit seiner Beobachtung hat. Es ist das Wochenende der Münchner Sicherheitskonferenz. In der bayerischen Hauptstadt wogen die Brandungen einer dysfunktionalen Weltordnung. Seit einiger Zeit ist auch das weite Feld der Kulturpolitik von einer zunehmenden Unübersichtlichkeit geprägt.
Zur Orientierung inszenieren wir am 15. Februar 2020 in den Münchner Kammerspielen einen Extraktionsraum dieses unwirschen Weltstroms. Eine immersive Installation ohne Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum ermöglicht eine multiperspektivische und diskursorientierte Rundumschau. Die Theaterbühne ist ein Labor zur Erforschung angewandter Kulturpolitik. Hier peitscht die Gischt institutioneller Veränderungen und wird der Schaum kultureller Selbstbegründungen angespült. Da die sowohl 2019 als auch 2020 zum Theater des Jahres gewählten Münchner Kammerspiele wiederholt im Zentrum einschneidender kulturpolitischer Debatten stehen, gibt es keinen besseren Ort für die Entwicklung eines angewandten Labors für Kulturpolitik.
Um alle Anwesenden gleichberechtigt zum Austausch zu motivieren, haben wir mit dem Dramaturgen Martin Valdés-Stauber und der Bühnenbildnerin Janina Sieber vier verschiedenen Laborstationen entworfen. In Anlehnung an die Metapher des Labors sind diese nach Vorbildern aus der Kulturgeschichte und Wissenschaft benannt: Fausts Studierzimmer, Le Laboratoire 12 Rue Cuvier, Frank N. Furter’s Lab und Latour’s Kitchentable. Die Decke zieren verschiedenfarbige Neonröhren und erleuchten den Raum in greller Laboratmosphäre. In einer großen Spiegelwand vervielfältigen sich das Backsteinmauerwerk und die um vier große Tische verteilten Sitzkissen und Stühle. In der Szenographie wird das Publikum zum zentralen Akteur des Cultural Policy Labs. Temporär entsteht eine vielfältige Gemeinschaft, die sich mit komplexen und interdisziplinären kulturpolitischen Zusammenhängen befasst.
In ihrem Grußwort erläutert Iris Bramsemann im Namen der bayerischen Regionalgruppe der Kulturpolitischen Gesellschaft ihre Vorstellung eines Labors: Vor dem inneren Auge entsteht eine Versuchsanordnung mit Reagenzgläsern, Schläuchen, Erlenmeyerkolben und Bunsenbrennern. Die Zutaten, die sogenannten Reagenzien, werden in Reagenzgläsern abgemessen, zugegeben und unter Feuer zur Reaktion gebracht. Viel Energie also, nicht ganz ungefährlich und oft mit unbekanntem Ergebnis.
In unserem Cultural Policy Lab stehen das diskursive Experiment sowie die Vermittlung zwischen Wissenschaft und Praxis im Vordergrund. Wir wollen im Weltstrom der Ungewissheit aktuelle Fragen hinsichtlich einer zukunftsweisenden Kulturpolitik aufwerfen, Partizipation als Methode ergründen und zu ungewöhnlichen (und neuen?) Lösungswegen für die vielschichtigen Herausforderungen des Kultursektors gelangen. Bei der Konzeption der Veranstaltung war es uns wichtig, unsere Überlegungen zur wechselseitigen Dynamik von Institutionen und Ästhetik offen und weitgehend hierarchiefrei innerhalb eines anregenden Kommunikations- und Begegnungsraums zu diskutieren und auf Grundlage der Erfahrungen aller Teilnehmer*innen weiterzuentwickeln. Wie lassen sich historisch gewachsene Strukturen im Kulturbetrieb updaten? Welche Daten sammeln Kulturbetriebe und was können und sollten sie mit diesen anfangen? Inwiefern ist die Verunsicherung westlicher Gegenwartsgesellschaften Gegenstand kulturpolitischer Debatten? Ist das Konzept „Kultur für Alle“ gescheitert oder lässt es sich ins 21. Jahrhundert übertragen?
Um die Komplexität kulturpolitischer Diskurse und die schiere Größe kulturpolitischer Herausforderung konzeptionell abzubilden, finden Vorträge und Diskussionsrunden parallel statt. Dies regt über den gesamten Tag den Austausch zwischen den Teilnehmenden an und unterstreicht, dass es nur ein paar Meter weiter immer noch mehr zu entdecken gibt. Vor dem Hintergrund sich überlagernder Problemstellungen war es uns wichtig, einen ganzheitlichen Blick auf die kulturelle Entwicklung der Stadt umzusetzen. Wir wollen unsere Überlegungen zur Verschränkung von Produktionsbedingungen, institutionellen Rahmenbedingungen und daraus resultierender Ästhetik nicht eindimensional in einem inszenierten Dialog präsentieren, sondern als Arbeitsstand diskursiv erproben. Unsere wissenschaftliche Perspektive soll einen dynamischen Rahmen setzen, der mit möglichst vielfältigen und vielen Stimmen aus Zivilgesellschaft, Politik, Kunst und Wissenschaft angereichert wird. Dabei richtet sich unser akademisches Interesse an den Erfordernissen der Praxis aus.
Den Auftakt für den intensiven Austausch machen Studierende des Seminars Institutionelle Ästhetik mit der Vorstellung ausgewählter Forschungsperspektiven. Luise Barsch berichtet von arbeitssoziologischen Studien über die Kulturbranche, Christina Kockerd über Inklusion und Diversität als institutionelle Herausforderung, Lena Huber über Stadt als Kunst und Soziokultur und Hanna van der Heijden informiert über aktuelle Perspektiven der Nicht-Besucherforschung. An den Stationen haben wir Statistiken, Bilder, einschlägige Texte und Thesen bereitgelegt, um anhand von konkreten Materialien gemeinsam über Problemfelder nachzudenken.
In einem zweiten Versuchsaufbau beleuchten zwölf Beobachter*innen aus unterschiedlichen Perspektiven die kulturelle Entwicklung Münchens. Ein Schwerpunkt dieses Teils ist die Frage, welche Zukunft historisch gewachsene Institutionen wie Stadttheater, Stadtbibliothek oder Volkshochschule haben. Außerdem im Programm: Eine Kulturredakteurin der Süddeutschen Zeitung fragt nach kulturpolitischen Visionen. Der Geschäftsführer des Techno-Clubs Harry Klein entwickelt im Dialog mit einem Veteranen der Zwischennutzung im Glockenbachviertel Perspektiven auf Freiräume für die Kultur- und Start-Up-Szene. Der Künstlersprecher der Domagkateliers spricht über dreißig Jahre künstlerische Selbstverwaltung. Weitere Inputs kommen von der Vorsitzenden des KulturRaum München e.V., einer Entwicklungsökonomin aus dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V., dem Gründer der Kulturplattform KulturData.de, einem Schauspieler des Stückes Hellas München sowie einem Mitglied der Partei Die Urbane. Eine HipHop Partei.
„Was bedeutet Inklusion für euch?“, lautet eine der Fragen an Latour’s Kitchentable, zu der eine Gruppe Ideen sammelt. „Teilhabe“, „alle sind dabei“, „etwas gemeinsam machen“ und „auf Augenhöhe“ lauten dabei nur einige Aspekte, die sich auf einem vor der Gruppe liegenden Plakat sammeln. Abgerundet wird die Veranstaltung durch eine große Diskussion auf der Theaterbühne, zu der u.a. Vertreter*innen verschiedener politischer Parteien sowie Kandidat*innen für die Münchner Stadtrats- und Oberbürgermeisterwahl gekommen sind. Alle Anwesenden sitzen um die Laborstationen auf der Bühne. Die Grenzen zwischen Wissenschaft und Kulturpolitik, Theater und Stadtraum verschwimmen.
Zum Ausklang der Veranstaltung legt DJane Bi Män in Frank N. Furters Genderlabor auf. Man trinkt Bier oder Sekt und tanzt zum Ausklang des Cultural Policy Labs unter einem Bruno Latour-Lampenschirm. Ja. Es ist gut, dass die Welt kein solider Kontinent aus Fakten ist und in der Kulturpolitik etwas in Bewegung kommt.